Prozess: „Ehrenrettung“ auf Tschetschenisch
Ein kurzer Rock? Geht gar nicht. Bikinifotos auf Instagram? Eine Schande. Eine Beziehung oder Hochzeit mit einem Nicht-Tschetschenen? Ein Grund zur öffentlichen Ächtung der ganzen Familie. Oder für einen Nasenbruch.
Man bekommt am Mittwoch im Landesgericht für Strafsachen in Wien tiefe Einblicke in die Gedankenwelt konservativer Tschetschenen. Dabei treten die fünf Angeklagten selbst nicht allzu traditionell auf. Keine Bärte, dafür Slim-Fit-Anzüge.
Sitten-Manifest
Die selbst ernannten Sittenwächter zwischen 19 und 40 Jahren sahen sich laut Staatsanwältin trotzdem als Bewahrer der tschetschenischen Sitten. Speziell wenn es um das Erscheinungs- und Verhaltensbild von Mädchen und Frauen ging. „Das können wir hier nicht dulden“, sagt die Anklägerin. Erst recht nicht, wenn die Landsfrauen bedroht und eingeschüchtert werden, weil sie einen „zu westlichen“ Lebensstil pflegen.
Die Männer tauschten sich in Telegram-Chatgruppen aus. Fanden sie entsprechende Bilder von Landsfrauen, wurden sie dort geteilt. „Um die Frauen auszuforschen“, sagt die Staatsanwältin. Danach ließ man ihnen ein „belehrendes Gespräch“ angedeihen – und suchte sie dazu auch am Arbeitsplatz auf. „Wenn das nicht gefruchtet hat, wurde damit gedroht, die Fotos zu veröffentlich und damit ihre Stellung in der tschetschenischen Community zu vernichten.“ Zumindest ein Fall ist dokumentiert, in dem ein junger Nicht-Tschetschene eine Beziehung mit einem Nasenbruch bezahlte. Danach wurde seiner Freundin ausgerichtet: Im Falle einer Anzeige wäre er tot.
König der Nacht
Dafür wollen die Angeklagten allesamt nicht verantwortlich gewesen sein. Ein Rädelsführer, der unter dem Namen „King of the Night“ ein Gruppen-Administrator war, lässt über seinen Anwalt Alexander Philipp erklären, dass er „persönlich nie Gewalthandlungen gesetzt“ habe.
Ein anderer – er schreibt aktuell ein Buch über tschetschenische Sitten – sieht sich sogar in der Rolle des Retters. Er habe entsprechende Fotos sofort an die Ältesten weitergeleitet, die dann das Gespräch mit den Frauen gesucht haben. So seien die Bilder gar nicht erst in den Gruppen gelandet.
Ein Dritter wiederum erzählt, er habe in den Gruppen eigentlich selbst eine Frau gesucht. Der Vierte verspätet sich gehörig – er ist zeitgleich zwei Stockwerke tiefer bei einer anderen Verhandlung unabdingbar und wird dort wegen Einbruchsdiebstahls zu acht Monaten Haft verurteilt.
Der Fünfte wiederum soll der Kopf der Partie gewesen sein, nannte sich „Heinrich Himmler“ und sitzt aktuell in Haft wegen krimineller Organisation und terroristischer Vereinigung.
Ein geständiger Angeklagter wird zu 15 Monaten Haft verurteilt, fünf davon unbedingt; nicht rechtskräftig. Gegen die anderen wird weiterverhandelt.