Chronik/Wien

"Das Bild vom Helden bröckelt"

Oliver N. war ein Dschihad-Nachwuchsstar. Der Berufsschüler, 16, posierte in Syrien auf Fotos in Kampfmontur, rief in einem Video zum Schlachten der Ungläubigen auf und beschrieb den Krieg wie einen Italien-Urlaub – inklusive Nutella-Frühstück.

Der Wiener zog im August des Vorjahres aus, um ein Held zu sein – und kehrte als menschliches Wrack zurück. Anstatt Ruhm zu erlangen, sammelte er als Sanitäter blutüberströmte Dschihadisten und abgerissene Arme ein. Nach einem Angriff hielt N. seine eigenen "Eingeweide in Händen" (so sein Anwalt) und schaffte es mit Glück, der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu entkommen.

Bisher gab es nichts, was es mit der IS-Propaganda aufnehmen konnte. Erstmals erzählt nun ein Jugendlicher ungeschminkt über den Albtraum Dschihad. Offen ist, wie seine Geschichte wirken wird. Wird sie abschrecken? Oder tun das Strafen?

"Gegenpol schaffen"

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"Es ist die Chance, einen Gegenpol zur IS-Propaganda zu schaffen. Entscheidend ist jetzt, was man daraus macht", sagt Sozialarbeiter Fabian Reicher. Der 27-Jährige von Back Bone Brigittenau, einer Einrichtung der Wiener Jugendarbeit, ließ am Freitag in einem Gespräch mit einem Burschen den ersten Versuchsballon steigen. Wirkte der Fall abschreckend? "Das Bild vom Helden bröckelt", erzählt Reicher. Gänzlich ab war der Lack nicht. Entscheidend sei nun, wie Medien N. darstellen. "Es braucht objektive und differenzierte Berichte. Wenn er als Monster abgestempelt wird, werden sich manche Jugendliche mit ihm solidarisieren." In seinem Job ist "das Beispiel hilfreich", sagt der Sozialarbeiter. N. sei für Teenager eine authentische Quelle, die die IS-Propaganda entlarve.

Die Beichte des jungen Rückkehrers ist schauderhaft. Er schildert, wie er drei Monate bevor er verschwand vom religiösen Analphabeten zum Salafisten wurde; wer ihm die Syrien-Reise schmackhaft machte; wie er als Propaganda-Figur und Anwerber eingesetzt wurde; und wie sehr ihn Bilder von "zerfetzten Leichen" wie jene seines Mitstreiters Firas H. beschäftigen.

Europaweit setzen Behörden große Hoffnungen auf redselige Heimkehrer, die Stoff für die Präventionsarbeit liefern. In Deutschland knüpft man dabei an Erfahrungen mit Neonazi-Aussteigern an (siehe unten).

"Fantasie der Politik"

Trotz der dramatischen Schilderungen muss sich N. seiner Verantwortung stellen. Der Staatsanwalt ermittelt gegen ihn wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Ausbildung für terroristische Zwecke und Aufforderung zu terroristischen Straftaten. Da er jugendlich ist, droht ihm zwar nur der halbe Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Haft. Auch all das soll abschrecken. Politiker betonen gebetsmühlenartig, mit harter Hand durchgreifen zu wollen. Die abschreckende Wirkung stellt sich aber nicht ein, sagt Kriminalsoziologe Reinhard Kreissl, Leiter des Vienna Centre for Societal Security. "Das hat noch nie einen Täter abgehalten." Kreissl nennt es "eine Fantasie der Politik".

Es funktioniere eingeschränkt nur bei Verkehrsstrafen, aber sicher nicht bei Dschihadisten. In den Fällen könne es kontraproduktiv sein. Kreissl: "Durch eine harte Strafe macht man ihn zu einer Symbolfigur, an der sich jene orientieren, die ohnehin gegen den Staat sind." Oliver N. wäre dann ein Märtyrer. Oft sei es "ein größeres Zeichen von Souveränität, wenn der Staat Milde zeigt".

Der Wissenschafter warnt davor, das Dschihad-Problem zu dramatisieren. Es handle sich um "eine kleine Anzahl" (Anm. laut Verfassungsschutz sind es 166 Ausgereiste und 68 Heimkehrer) und beim Kriegstourismus um kein neues Phänomen.

Rückkehrer-Programm

Zur Gefahr werden die Rückkehrer, wenn sie sich selbst überlassen bleiben. Kreissls "Mantra" lautet: "Mit den Rückkehrern arbeiten. Die werden nicht mehr straffällig, weil sie radikalisiert, sondern weil sie schwer traumatisiert sind." Das zeigen etwa Studien über US-Veteranen aus dem Irak-Krieg, sagt Kreissl. In Österreich fehlen Programme wie in Dänemark, wo Rückkehrer Polizisten und dann Psychologen ihre Geschichten erzählen.

Wie wird es mit N. weitergehen? "Das wird ein Leben lang ein Teil von ihm sein", sagt Reicher. Hier schließe sich der Kreis. Greift ein Rückkehrer-Programm, so kann Oliver N. später in die Präventionsarbeit eingebunden werden. Mit seiner Geschichte könne er "dazu beitragen, dass andere nicht den selben Fehler machen." Und dabei einen Weg finden, mit der Last umzugehen.

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Exit-Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte: Der Verein half seit seiner Gründung vor 15 Jahren 350 Personen, aus der rechten Szene auszusteigen. Es blieb nicht bei reinen Aussteigerprogrammen und den direkten Hilfsangeboten an die Betroffen. Vier der Referenten gehörten der rechtsextremen Szene an und leisten nun Präventionsarbeit.

Ihre Vorträge in Schulen und Jugendclubs sind gefragt. Sie zeichnen sich vor allem durch eines aus – Authentizität. Jugendliche erhalten eine biografische Vermittlung von Wissen. Wie leicht es etwa war, in die Szene abzurutschen. Gleichzeitig finden sie einen Weg, um mit ihrer Geschichte umzugehen. Der Verein inspirierte Nachfolgeprojekte, darunter auch jene, die sich um Personen mit radikal-islamistischer Gesinnung kümmern.