Das Wort „Abschuss“, wiewohl unter Anführungszeichen gesetzt, gibt die Tonalität vor. Dieses Jahrbuch ist (auch) eine Aufarbeitung der Ära Kurz und ihres abrupten, für die ÖVP schmerzlichen Endes. Zwei als „Leitartikel“ ausgewiesenen Beiträgen kommt hier eine Schlüsselfunktion zu. Bettina Rausch, die Präsidentin der Politischen Akademie und Nationalratsabgeordnete, stellt die Vorkommnisse in den größeren Zusammenhang insgesamt demokratiepolitisch bedenklicher Entwicklungen (Stichworte: Spaltung, Polarisierung).
Gleich 75 Seiten (!) des über 600 Seiten starken Bandes umfasst der Rückblick auf die Ära Kurz von Nationalratspräsident und Co-Herausgeber Wolfgang Sobotka unter dem Titel „Veränderung schafft Hoffnung“, der allerdings ausführlich aus diversen Reden und Erklärungen von Kurz zitiert.
Direkt daran anschließend ein Interview mit Kurz, geführt – in Du-Form – am 31. Jänner dieses Jahres: Der Ex-Kanzler blickt hier – fast möchte man sagen, ein wenig abgeklärt – auf seine Kanzlerjahre zurück, betont die inhaltliche Plausibilität der seinerzeitigen Zusammenarbeit mit der FPÖ („größte Schnittmenge für unsere Überzeugungen“), lobt aber auch die Zusammenarbeit mit den Grünen und verteidigt zumindest partiell den berüchtigten Slogan vom „Besten aus beiden Welten“.
Und zu seinem „Abschuss“ sagt er, „dass das, was hier in Österreich stattfindet, in vielen Ländern der Welt eigentlich undenkbar wäre. Eine Überschneidung von Justiz und Politik, eine ständige öffentliche Debatte über Akten oder Privates, wo oft sozusagen der erste Eindruck oder der erste Spin entscheidend ist“.
Zentral in diesem Zusammenhang ist natürlich das Thema (Ibiza-)U-Ausschuss (UA), dem sich der führende Kopf des Herausgebergremiums und einer von Sobotkas Vorgängern als Nationalratspräsident, Andreas Khol widmet. Seine generelle Schlussfolgerung: der Untersuchungs- sei zu einem „Unterstellungsausschuss“ verkommen. Khol macht aber auch konkrete Vorschläge für Gesetzesänderungen: etwa, dass nicht die Bezeichnung des UA schon eine Vorverurteilung impliziert; oder auch, dass den Vorsitz ein Richter a. D. führen soll, der vom Ausschuss gewählt wird.
Fazit: nach außen mag die Ära Kurz vorbei sein, parteiintern ist sie es wohl noch längere Zeit nicht.
Kommentare