"Das ist Davonlaufen vor Verantwortung"

Alt-Kanzler Franz Vranitzky mahnt zur mehr Solidarität
Alt-Kanzler Franz Vranitzky über den menschenunwürdigen Umgang der EU mit dem Flüchtlingsdrama.

Freitagnachmittag in Linz und Salzburg: Trotz Regen bauen Rotkreuz-Mitarbeiter und Polizisten 24 weitere Zelte für Flüchtlinge auf. Damit erhöht sich die Bettenkapazität um 192 Plätze. Doch jeden Tag kommen bis zu 300 neue Flüchtlinge hinzu. Die Schutzsuchenden schlafen und frieren bei drei Grad Celsius im Zelt. Gegen die Kälte steht vor jedem der Zelte ein Heizaggregat. Außerdem werden zusätzliche Decken ausgeteilt. Das Angebot von Verteidigungsminister Gerald Klug, Kasernen für Flüchtlinge zu öffnen, wurde von den Bürgermeistern torpediert.

Was ist nur los mit der oftmals gerühmten Hilfsbereitschaft der Österreicher? Das fragt sich auch Alt-Kanzler Franz Vranitzky. "Die Situation, wie sie sich derzeit darstellt, ist kein Ruhmesblatt für Österreich." Der Ex-SPÖ-Regierungschef räumt aber ein, dass es offenbar Kommunikationsfehler in der Planung der Flüchtlingsverteilung gab.

80 Millionen Euro gesammelt

"Ich höre, dass es Unmut gibt, weil die Bürgermeister aus den Medien von den Plänen des Innenministeriums erfahren. Das muss man verbessern", so Vranitzky. Und der Alt-Kanzler weiß wovon er spricht: Während seiner Regierungszeit (1986– 1997) suchten nach dem Ausbruch des Balkankrieges 115.000 Menschen aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo Zuflucht in Österreich. Mehr als 60.000 dieser Flüchtlinge fanden in Österreich eine neue Heimat. 1992 war es auch, als die erfolgreiche Hilfsaktion "Nachbar in Not" für die Opfer des Krieges im ehemaligen Jugoslawien ins Leben gerufen wurde. Bis 1997 wurden 80 Millionen Euro für die Menschen am Balkan gesammelt.

Warum war die Hilfsbereitschaft damals so viel größer als heute? "Ich denke, dass aufgrund der geografischen Nähe und den geringeren kulturellen Unterschieden die Türen für die Flüchtlinge damals weiter geöffnet waren", analysiert Vranitzky. Ein weiteren Grund für die geringe Solidarität mit den Schutzsuchenden ortet der Ex-Politiker in der Unkalkulierbarkeit der Situation. "Ich glaube, dass etliche unter dem Eindruck stehen, dass es sich hier um einen nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom handelt. "

Lob für Regierung

Trotzdem mahnt Vranitzky zu mehr Hilfsbereitschaft. "Das ist keine Einstellung, die man im 21. Jahrhundert haben darf. Wenn die Menschen angesichts der Gräueltaten immer noch kein Verständnis für die Flüchtlinge haben, dann befinden wir uns in einem schlimmen Zustand." Der Ex-Kanzler ist der Regierung aber dankbar, dass sie sich trotz des Widerstandes "nicht einschüchtern" lässt und versucht, die Situation "mit Augenmaß über die Bühne zu bringen".

Schelte für EU

"Das ist Davonlaufen vor Verantwortung"
ABD0188_20150516 - SALZBURG - ÖSTERREICH: Die Unterbringung von Flüchtlingen in Zeltstädten ist Teil einer neuen Maßnahme um den Flüchtlingsstrom in Österreich besser in den Griff zu bekommen. Im Bild: Flüchtlinge beziehen am Samstag, 16. Mai 2015, die Zelte in Salzburg. - FOTO: APA/FRANZ NEUMAYR
Hart ins Gericht geht Vranitzky auch mit der Quoten-Debatte in der EU. Am Mittwoch will die EU-Kommission neue Pläne für die Verteilung von 40.000 Flüchtlingen, die in Italien und Griechenland eingetroffen sind, vorlegen. Deutschland und Österreich, die vergleichsweise viele Flüchtlinge aufnehmen, begrüßen die Pläne. Aber zahlreiche EU-Staaten, darunter Spanien, Frankreich, Großbritannien und viele osteuropäische Länder, wehren sich vehement gegen Quoten. "Es gibt einige Kollegen in der Europäischen Union wie David Cameron, die Solidarität mit nationalem Egoismus verwechseln. Das ist ein dramatischer Zustand. Damit werden wir nicht weit kommen. Denn wo keine Solidarität geübt wird, wird es wieder zu Spannungen kommen. Damit kann man zeithistorisch keinen Blumentopf gewinnen."

Auch die EU-Pläne, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, sondern die Probleme vor Ort lösen zu wollen, hält der Sozialdemokrat für unverständlich. Vranitzky: "Das ist ein Davonlaufen vor der Verantwortung. Man kann in solchen Ländern keine Demokratie über Nacht einführen."

Wir können nicht alle nehmen. Der beste Weg, Menschen vor dem Ertrinken zu schützen, ist, sicherzustellen, dass sie gar nicht auf die Schiffe kommen." – "Wir dürfen nicht überrascht sein, dass die Unglücklichen der Welt durchs Fenster kommen. Man muss die Türen für legale Migration öffnen." Szenen eines Streitgesprächs zwischen HC Strache und Eva Glawischnig? Möglich, aber total daneben. Es sind nicht zwei Politiker links und rechts der Mitte, die sich so in die Haare geraten, sondern die beiden mächtigen Oberhäupter der EU.

EU-Ratspräsident Donald Tusk macht zunehmend erfolgreich für mehr Abschottung mobil: Im Mittelmeer sollen schon ab Juni alle Flüchtlingsboote an der Weiterfahrt gehindert und Richtung libysche Küste abgedrängt werden. Tusk weiß die große Mehrheit der 28 EU-Staaten hinter sich. Denn drei Viertel aller Asylanträge werden in nur fünf EU-Ländern gestellt. EU-Kommissionschef Jean Claude Juncker steht an der Spitze jener kleinen Gruppe, die eine faire Aufteilung der Flüchtlinge in der EU fordert. Die Boote zur Vertreibung neuer Flüchtlinge sind startklar. Vom Wunsch nach einer gerechten Verteilung von allein im Vorjahr 500.000 neuen Asylwerbern bleibt vorläufig nur ein bescheidenes Pilotprojekt: Bis zu 40.000 Flüchtlinge sollen innerhalb der EU "umverteilt" und so überlaufene Erstaufnahmeländer wie Italien und Griechenland entlastet werden. Für neue Wege "legaler Migration", um noch mehr Tragödien zu verhindern, wirbt auch EU-Kommissionschef Juncker bislang vergeblich.

Frankreich, UK und Spanien drücken sich

Es ist hoch an der Zeit, innerhalb der EU Tabus anzusprechen: Die "Grande Nation" Frankreich nimmt drei Mal weniger Flüchtlinge auf als das nur unwesentlich größere Deutschland; Großbritannien nicht einmal so viel wie das kleine Österreich. Spanien hat den Fluchtweg übers Mittelmeer konsequent abgeschnitten. Es nutzt seine Abseitsposition auch, um sich vor Asylwerbern auf dem Landweg zu drücken. Nur 5000 Flüchtlinge fanden 2014 in Spanien Aufnahme.

Der Umgang der EU mit dem Flüchtlingsdrama ist eine Schande. Das darf uns aber keine Sekunde daran hindern, allen, die es zu uns verschlägt, die Hand zu reichen. Die Not ist groß wie nie: Zehn Millionen wurden durch IS-Terror vertrieben. Die meisten suchen in Jordanien, dem Libanon oder der Türkei Zuflucht. Nur jene, die sich Schlepper leisten können, schaffen es bis zu uns; oft Menschen mit guter Ausbildung aus der Mittelschicht.

Österreich hat mehrfach bewiesen, dass es auch große Flüchtlingsströme erfolgreich bewältigen kann. 1992 nahm Österreich offenherzig weitaus mehr Flüchtlinge als heute auf. Seit 1945 suchten mehr als zwei Millionen kurzfristig bei uns Schutz und Hilfe, ein Drittel ist tatsächlich geblieben. Europa braucht mehr von diesem Geist der Solidarität für die Gestrandeten. Je mehr Länder diese Gesinnung leben, desto besser ist das neue Flüchtlingsdrama auch für alle politisch verkraftbar.

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