"Überregulierung schnürt Schulen die Kehle zu"

"Überregulierung schnürt Schulen die Kehle zu"
Das Modell der Industrie einer ganztägigen Gesamtschule gibt es bereits – in Wien.

Das Konzept eines neuen Schulsystems, wie das die Industriellenvereinigung (IV) vorschlägt, ist für uns hoch interessant. Und kurios: An unserer Schule beginnt der Unterricht um 8.30 Uhr und endet um 15.30 Uhr, das fordert auch die IV", sagt Direktor Josef Reichmayr von der Lernwerkstatt Brigittenau. Noch vieles mehr von dem als revolutionär gepriesenen Schulmodell der Industrie, das vergangenen Dienstag präsentiert worden ist (siehe oben), sieht er an seiner Schule schon umgesetzt.

Seit 16 Jahren leitet Reichmayr die Schule in der Wiener Brigittenau. Sie ist für Kinder ab sechs bis 15 Jahren. Eine Schulglocke, und damit die 50-Minuten-Stunde, gibt es nicht. Nur für Mathematik, Englisch und Deutsch gibt es fixe Einheiten. Darüber hinaus sind die Schüler ziemlich frei, wann sie was lernen. Das klappt über ein durchdachtes Cluster-System für die 380 Schüler, wo jeder weiß, wann welche Projekte wo laufen. Zudem gibt es einen stark individualisierten Unterricht in altersgemischten Kleingruppen. Kinder, die sonderpädagogische Förderung brauchen (fast ein Viertel), sind integriert. Benotet wird an dieser Schule nicht. Auch außerhalb des Bezirkes ist sie sehr beliebt: "Nimmt man die Nachfrage als Indikator, läuft es doch sehr gut bei uns."

Reichmayr hätte gerne, dass es bald in jedem Wiener Bezirk so eine Modellschule gibt: "Das wäre nicht übertrieben, und der Bedarf ist allemal gegeben." Dem stehen aber veritable Probleme gegenüber: "Man kann so eine Schule nicht verordnen oder kopieren, weil es Menschen dafür braucht, die von der Idee begeistert sind und das umsetzen wollen. Aber Schulen sollen ermuntert werden, ihren eigenen Weg zu gehen."

Sorge vor Autonomie

Reichmayr spricht von "gelebter Autonomie"; das ist unter den gegebenen Bedingungen für die meisten Schulen aber kein realistischer Weg. "Derzeit haben wir eine totale Überregulierung, wo alles bis ins kleinste Detail vorgeschrieben ist. Das schnürt den Schulen die Kehlen zu."

Der Direktor erklärt sich das mit der Sorge der Politik und der Behörden, dass bei einer echten Autonomie die Gefahr bestünde, dass Lehrer und Schüler nur mehr Zeit absitzen – und in die Luft schauen. Diese Ängste seien aber fehl am Platz.

Profiteure

"Für unsere Schule können wir den Nachweis führen, dass in einer gemeinsamen Schule mit Integrationskindern alle profitieren, weil sie Respekt erfahren und sich ihren Möglichkeiten entsprechend einbringen können. In der Regelschule muss ich mich hingegen mit neun Jahren entscheiden, welche Richtung mein Leben einschlagen soll. Da gibt es einen unglaublichen Druck bei den Schülern, den Eltern und den Lehrern", sagt Reichmayr. Seine Schüler haben diesen Stress der Regelschulen nicht. Dennoch finden sie sich später in allen weiterführenden Schultypen zurecht, in Gymnasien mit Matura ebenso wie in Berufsbildenden Schulen, detto in einer Lehre. "Weil sie eine besondere Qualifikation und Wachsamkeit mitbringen."

Das sei schließlich auch Ziel seiner Schule – aus den Kindern selbstbewusste, entscheidungsstarke und zum Denken fähige Menschen zu machen, "die vielleicht auch glücklich werden können".

Modelle im Vergleich

Was die Industrie vorschlägt:

Eine Schule für alle von 5 bis 14: Statt der Unterrichtspflicht soll es eine Mittlere Reife geben, die Schüler absolvieren drei Phasen: In der ersten Lesen, Schreiben, Rechnen. Danach Allgemeinbildung und am Ende Fachkenntnisse und Berufsorientierung. Schule soll in der Kernzeit von 8.30 bis 15.30 Uhr verpflichtend sein. Schulen sollen von 7 bis 19 Uhr geöffnet haben. Und der Schulleiter soll über Finanzen und Lehrer entscheiden.

Lernwerkstatt Brigittenau: Eine Schule von sechs bis 15, von 8.30 bis 15.30 Uhr, die Älteren bleiben oft bis 16.30. Individualisierter Unterrichtet in altersgemischten Kleingruppen.

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