Jeder vierte Wiener darf nicht wählen

„Nicht mitbestimmen zu lassen, ist nicht zielführend.“ Renate Brauner, Vizebürgermeisterin
SPÖ ortet schwindende Legitimation für Politik – Länder sollen EU-Bürgern Wahlrecht geben dürfen.

Er ist Verkaufsleiter einer internationalen Firma, sie ist Chefsekretärin an einer Hochschule, die 18-jährige Tochter Vorzugsschülerin an einem Wiener Elitegymnasium. Seit fünfzehn Jahren hat die Familie ihren Hauptwohnsitz in Wien. Alle drei sind bestens integriert, das ÖVP-Ideal der Leistungsträger. Dennoch sind sie Bürger zweiter Klasse.

Weil sie deutsche Staatsbürger sind, ist die Familie von den Gemeinderatswahlen ausgesperrt. Rechtlicher Hintergrund: Wien ist nicht nur Gemeinde, sondern auch Land, der Gemeinderat ist auch Gesetzgeber, weswegen ihn nur Staatsbürger wählen dürfen (EU-Bürger dürfen im Bezirk wählen, Drittstaaten-Angehörige wie die 70.800 Serben nicht einmal im Bezirk).

Dabei wäre die Lösung so einfach: Der Nationalrat könnte per Verfassungsänderung den Ländern erlauben, selbst zu entscheiden, ob sie das Wahlrecht an den Hauptwohnsitz oder an die Staatsbürgerschaft binden. Seltsamerweise ist in diesem Fall die Föderalisten-Partei ÖVP für eine Bevormundung der Länder durch den Bund: "Das Wahlrecht zu gesetzgebenden Körperschaften ist zentrales Element der Rechte der Staatsbürger. Die ÖVP sieht keinen Änderungsbedarf", sagt Klubchef Reinhold Lopatka.

In Wien, wo heuer im Oktober Gemeinderatswahlen stattfinden, wird die Frage des Wahlrechts jedoch immer drängender. Wien wächst, und die Verfassung hinkt der Realität hinterher. Das führt dazu, dass bereits jeder vierte Wiener (siehe Grafik) vom Wahlrecht ausgeschlossen ist und die Politik an seinem Wohnsitz nicht mitbestimmen darf.

Jeder vierte Wiener darf nicht wählen

Bezieht man die sinkende Wahlbeteiligung mit ein (2010 gingen in Wien zwei Drittel zur Wahl), so gründet sich das Wiener Wahlergebnis auf lediglich die Hälfte der Wohnbevölkerung. Eine absolute Mehrheit ist somit nur von einem Viertel, Parteien von der schnuckeligen Größe der Wiener ÖVP überhaupt nur von einem Sechzehntel legitimiert. "Die gewählten Vertreter repräsentieren einen immer kleineren Teil der Bevölkerung, wodurch sie auf Dauer ihre Legitimationsbasis verlieren", befindet Eva Maltschnig, Chefin der Sektion 8 in der Wiener SPÖ.

In Wiener Schulen wird Jugendlichen der Wert der Demokratie vermittelt – doch wählen ist ihnen untersagt. Vizebürgermeisterin Renate Brauner: "Wir verlangen von den Zuwanderern zu Recht, dass sie sich an geltende Regeln halten, aber mitbestimmen lassen wir sie nicht. Das ist nicht zielführend."

Während sich Nicht-EU-Bürger in der Regel um die Staatsbürgerschaft bemühen und mit ihr das Wahlrecht erhalten, braucht ein EU-Bürger eigentlich keinen Staatsbürgerschaftswechsel. Somit kriegen Unionsbürger nie ein Wahlrecht – obwohl sie bereits zehn Prozent der Wiener ausmachen.

Die SPÖ-Wien beschloss auf dem Parteitag einen Antrag, Druck auf den Bund für eine Verfassungsänderung auszuüben. Mitbeschlossen wurde der Antrag von SPÖ-Klubchef Andreas Schieder. Auf KURIER-Anfrage schlägt Schieder vor, der Nationalrat solle erlauben:

Wahlrecht für alle Staatsangehörigen in Gemeinden (am Land) und Bezirken (in Wien) Zusätzlich für EU-Bürger Wahlrecht bei Landtagen und Wiener Gemeinderat

Länder und Gemeinden sollen frei entscheiden, ob sie ihr Wahlrecht liberalisieren.

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