Danke für den langen Frieden in Europa

Russische SS-20 Mittelstreckenraketen führten zu Nachrüstung und Protesten.
Wer 1955 in Europa geboren wurde, hat viel vom 2. Weltkrieg gehört und den Aufbau eines friedlichen Kontinents erlebt.

Es war Mittwoch, der 21. November 1990, 34 Staats- und Regierungschefs aus den USA, Kanada, Europa und der Sowjetunion waren in Paris zum Gipfel der KSZE versammelt, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ich war gemeinsam mit meinem Kollegen und Freund Lorenz Gallmetzer, dabei, als im Élysée-Palast ein Dokument unterschrieben wurde, das uns so etwas wie den ewigen Frieden in Europa versprach.

Als Kinder der 1950er-Jahre hatten wir den wachsenden Wohlstand, den Streit um die Nazi-Vergangenheit, den Kalten Krieg und den Fall der Mauer erlebt. Aber jetzt ging es plötzlich um die Zukunft des Kontinents, der sich bald ohne Grenzen und frei von militärischer Bedrohung entwickeln könnte.

Die Präambel der "Charta von Paris" lautete: "Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tief greifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit."

Nachkriegsgeneration

Wer 1955 in Europa geboren wurde, ist ja auch mit dem schwierigen Schicksal der Elterngeneration aufgewachsen. Unsere Väter waren als junge Männer im Krieg, freiwillig oder gezwungen, oder sie waren aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen im Widerstand, im KZ, wurden vertrieben oder gar ermordet. Frieden, Freiheit und Demokratie kannte keiner aus seiner Jugend.

Mein Vater, Sohn eines christlich-sozial eingestellten Bauern aus dem niederösterreichischen Semmering-Gebiet, erzählte, dass in seiner Schulklasse Mitte der 1930er-Jahre in Wiener Neustadt alle Jugendlichen sehr politisiert waren, als Nazis, Kommunisten oder Christlich-Soziale – nur Demokraten gab es keine. Er und seine christlich-sozialen Freunde sahen in Stalin als auch in Hitler den Teufel. Sie wären im März 1938 gegen die Deutschen marschiert, hätte man sie nur bewaffnet. Schließlich landete er selbst als Soldat in Hitlers Armee.

Meine Generation ist völlig anders aufgewachsen. Wir haben Europa und die Welt nicht in Uniform, sondern mit Interrail-Karte, als Autostopper oder als Studenten kennengelernt, ich persönlich auch beim Studium an der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität in Bologna und bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Nationalismus kam da nur selten auf, etwa wenn Türken und Griechen über Zypern stritten. Über englische Kochkünste, italienische Pünktlichkeit oder deutsche Eleganz haben wir gewitzelt, ohne dass jemand beleidigt gewesen wäre. Und uns allen war klar, dass manche unserer Väter vielleicht aufeinander geschossen haben.

Der österreichische EU-Beitritt war spätestens seit der Wende vorgezeichnet und wurde am 1. Jänner 1995 vollzogen. Der damalige Außenminister Alois Mock hatte Österreich bereits viele Jahre zuvor in einem vereinten Europa gesehen.

Unser Weg nach Europa

Im Jahr 1982, als sonst niemand wagte, von einem EG-Beitritt zu sprechen, argumentierte Mock für "eine Teilnahme an der Meinungs- und Entscheidungsbildung der Europäischen Gemeinschaft" und definierte die "europäische politische und wirtschaftliche Einheit" als Aufgabe.

In Europa war man es immer gewohnt, dass die Amerikaner im Zweifel die schwierigen Fälle übernehmen, nicht nur militärisch. Ohne Marshall-Plan hätte sich der westliche Teil des Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg nicht so schnell erholt, wäre auch die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens nicht so drastisch gewesen. Manchmal mussten sich Europäer auch wehren, wenn atlantische Interessen dem Kontinent zu schaden drohten.

Der NATO-Doppelbeschluss von 1979, wonach der Westen atomare Pershing-Mittelstreckenraketen aufstellen und über Abrüstung verhandeln wollte, führte vor allem in Deutschland zu einer Politisierung vieler Jugendlicher. Auch ich glaubte nicht daran, dass Krieg durch noch mehr Waffen verhindert werden könnte. Den zunehmenden Anti-Amerikanismus verstand ich zwar nicht, aber für viele Deutsche war das das Ende der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Bundeskanzler Helmut Kohl war ja für Mittelstreckenraketen in Europa als Antwort auf die sowjetischen SS-20, sah aber in Flugkörpern mit geringer Reichweite nur die Gefahr, dass sie für die europäische Selbstauslöschung einsetzbar gewesen wären. Kohl: "Da habe ich dann sehr harsch unsere Position vertreten und ganz direkt zu ihr gesagt: ,Margaret, jetzt lassen wir mal den Bundeskanzler weg, jetzt sag ich zu dir was als Helmut Kohl. Dann habe ich die Geschichte erzählt, dass mein Onkel gefallen sei, mein Bruder gefallen sei. Dann hat Vizepräsident Bush auf seine Tischkarte geschrieben: ,Helmut, a very fine speech‘ , und mir das rübergeschickt." Auch amerikanische Politiker können also Europäer verstehen. Aber wir können uns nicht ewig auf die Amerikaner verlassen.

Der russische Europäer

Mein erstes Interview, das ich als junger ORF-Redakteur im Jahr 1982 machen durfte, führte ich mit Lew Kopelew. Es sind mir nicht nur der gewaltige weiße Bart und die eindrucksvolle Stimme in Erinnerung, Kopelew war eine herausragende Persönlichkeit des vergangenen Jahrhunderts. Geboren im Jahr 1912 in Kiew als Sohn russischer Juden, wurde er begeisterter Kommunist und blieb dies auch, als er in Stalins Straflager landete. Die Lebensaufgabe für Lew Kopelew und seine Frau Raissa Orlowa wurde später der Kampf für Freiheit und die Versöhnung der Völker. Was würde Kopelew sagen, wenn die EU heute als "EUdSSR" oder "Völkergefängnis" geschmäht wird? So wird ganz dumm und historisch verfälschend gegen die EU Stimmung gemacht. Wenn das anonyme Poster im Internet tun, ist es ärgerlich, wenn es gewählte Politiker tun, dann ist es verantwortungslos.

Danke für den langen Frieden in Europa
So kann Europa gelingen_Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG
Die Gründer der Europäischen Gemeinschaft spürten ihre Verantwortung nach dem Zweiten Weltkrieg, wir jungen Volontäre in Brüssel waren uns einig, dass unsere Freiheit in der Geschichte Europas einzigartig ist. Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer meinte: "Europas Geschick ist das Geschick eines jeden europäischen Staates."

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