"Wir sind keinesfalls Russland"

Patriotismus auf der Potemkinschen Treppe: Russland-treue Gruppen terrorisieren die Stadt mit Bomben-, Brand-, und auch Mordanschlägen.
In Odessa herrscht vor den Mai-Feiertagen das diffuse Gefühl, im Visier Moskaus zu stehen.

Igor sitzt auf leeren Gemüsekisten und raucht. Sein Kollege, der Kisten in einen Lieferwagen schmeißt, schimpft. Manchmal verlädt er Gemüse, manchmal fährt er Taxi, manchmal arbeitet er auf dem Bau, sagt Igor. Manchmal sollte er Gemüsekisten verladen, raucht aber viel lieber. "Was ich in einem Monat verdiene, versaufen die, die sich’s gerichtet haben, in einer Nacht", sagt er und schnalzt mit dem Daumen auf seinen Kehlkopf. "Alles Kriminelle."

Da denkt er wie viele in der Ukraine über "die da oben". Es ist jedoch die Zeit, da in Odessa wie in der ganzen Ukraine das Wort "aber" eine große Rolle spielt. Von Igor kommt keines. Nur: "Sehen sie sich Weißrussland an: ein starker Führer, ein richtiger Präsident und gutes Leben.

"In einem nahen Park spaziert ein älterer Herr, mit Einkäufen in einem Plastiksack. Pjotr heißt er. Auch er klagt über die niedrige Pension, die Wirtschaftskrise und den Krieg. Er klagt über die Regierung, über Korruption. Und da kommt es: "Aber diese Regierung ist noch das geringste Übel." Es gebe viel zu viele Probleme im Land. "Ja, es werden Fehler gemacht", sagt Pjotr. "Aber vielleicht sind wir am Anfang eines guten Weges – bei allen Widrigkeiten."

Eskalation

"Wir sind keinesfalls Russland"
Der Krieg ist zwar weit weg in Odessa – aber präsent. Vor einem Jahr, am 2. Mai, eskalierte in der Stadt die Gewalt zwischen pro-ukrainischen und pro-russischen Aktivisten. Es kam zu Schlägereien, Schießereien. Am Ende brannte das Gewerkschaftshaus in einem Park neben dem Bahnhof, in dem sich pro-russische Aktivisten verschanzt hatten. Insgesamt starben an diesem Tag 48 Menschen. Völlig unklar ist, wer wen zuerst angriff.

Igor nennt das, was sich hier vor einem Jahr zugetragen hat, ganz im Wortlaut Moskaus ein "Massaker". Der ältere Herr, Pjotr, nennt es eine "furchtbare Tragödie". Aber wären damals, so sagt er, die Menschen nach der ersten Eskalation nach Hause und nicht noch in viel größerer Zahl auf die Straße gegangen, "hätten wir heute Krieg wie in Donezk." Der Plan der Pro-Russen sei es, die Stadt unter Kontrolle zu bringen. Das sei damals verhindert worden. Eine junge Frau namens Vera sagt: "Es war eine Tragödie, aber eine, die die hiesige Staatsanwaltschaft nicht aufklären will." Die Ukraine, das sei ein Land wie der Libanon: undurchschaubar in seinen Allianzen.

Die lokale Regierung der Region ist eher dem zuletzt in Kiew in Ungnade gefallenen Oligarchen Igor Kolomoisky verpflichtet. Hohe Köpfe in der Stadtregierung hatten pro-russische Tendenzen offen unterstützt. Der lokalen Filiale des Geheimdienstes wird in Kiew offen misstraut. Ebenso der Staatsanwaltschaft und der Polizei.

Vor dem verbarrikadierten Gewerkschaftshaus ist heute eine kleine Gedenkstätte eingerichtet. Polizisten bewachen den Ort. Hier wehen keine blau-gelben (die Nationalfarben der Ukraine) Schleifen. Nur eine ukrainische Fahne auf Halbmast. Und auf eine Seite des Hauses hat jemand in roten Lettern gesprayt: "Für Russland". Was an diesem Ort passiert ist, will ein Passant nicht kommentieren. Aber er sagt: "Irgendjemand plant irgendetwas." Wer ist irgendjemand? Kopfschütteln. Was ist irgendetwas? Er grinst, hebt die Schultern und geht.

Serie von Anschlägen

Erst der 1. Mai, dann der Jahrestag des Brandes. Dann der 8. und 9. Mai mit den Weltkriegs-Siegesfeiern. Erwartet wird, dass pro-russische Kreise diese Tage für Aktionen nutzen. Wie effizient diese Zirkel sind, zeigen die vergangenen Monate. Jede Woche gab es Sprengstoff-, Brand- und Mordanschläge. Zuletzt wurden 40 Personen verhaftet, bei denen Waffen und Sprengstoff gefunden wurden.

12 Prozent, so eine Umfrage, würden in Odessa viel lieber in Moskaus Einfluss-Sphäre leben als in Kiews. Aber da ist eben auch diese riesige, amorphe Masse, die unzufrieden, von der Wirtschaftskrise gezeichnet und von den politischen Gegebenheiten enttäuscht ist – "und es nimmt wie es kommt", wie Vera sagt.

Da sind vor allem aber auch jene, die keinesfalls unter Moskaus Einfluss geraten wollen. Eine breite Volontärsbewegung hat sich etabliert. Zivilisten patrouillieren mit der Polizei – "vor allem, um ihnen auf die Finger zu schauen", wie Ruslan, der Kommandant dieser Gruppen sagt. Sein Name stand auf einer Todesliste, die bei Razzien gefunden wurde. Er sagt aber: "Heute haben sie keine Chance mehr."

Solche Freiwilligenverbände – mittlerweile unter Kommando staatlicher Stellen – stoßen aber auch im pro-ukrainischen Lager auf Misstrauen. "Es ist schon bedenklich, dass die Kommandanten oft Unternehmer sind", sagt ein Bursche mit einem Pulli mit der Aufschrift "Anarchie" in einem Kellerclub der Stadt. Nachsatz: "So gut es auch ist, was sie machen." Und nach langer Pause: "Wir sind vielleicht nicht ganz Europa – aber wir sind keinesfalls Russland."

Nachdem Igor ausgeraucht hatte, hat er die Kisten auf denen er saß, in den LKW geschmissen. Und während sein Kollege das mit einem Scherz kommentiert, sagt Igor: "Wir sind keine Europäer – Punkt." Ganz ohne aber.

Hoher Besuch aus Brüssel: EU-Ratspräsident Donald Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker kamen am Montag zu einem Gipfel mit Präsident Petro Poroschenko in die Ukraine. Zentrales Thema der Gespräche: Die weitere Annäherung des Landes an die Europäische Union. "Sie haben mächtige Feinde, aber gleichzeitig haben Sie viele Freunde", sagte Tusk bei einer Kranzniederlegung am Maidan.

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn forderte die Ukraine bei dem Gipfel zu Reformen auf: "2015 muss das Jahr der Umsetzung werden." Aus Brüsseler Sicht "haben Anti-Korruptionsreformen Priorität", sagte Hahn. Sie seien wesentlich für die Umsetzung des Assoziierungsabkommens mit der EU und "spielen eine Rolle, wenn es um unsere finanzielle Unterstützung geht und auch bei einer künftigen Visa-Liberalisierung".

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