Türkei wählt: Istanbul und Erzfeind Erdogan

Die Weltmetropole bietet heute all ihre Kräfte auf, um Präsident Erdogans AKP-Partei einzubremsen.

Kurz vor der türkischen Parlamentswahl am heutigen Sonntag hat Präsident Recep Tayyip Erdogan eingestanden, dass in der Wählerschaft keine richtige Begeisterung aufkommen will. Vom Enthusiasmus der vergangenen Jahre sei nichts zu sehen, klagte Erdogan.

Auf westlich geprägte und liberale Bewohner der Metropole Istanbul trifft das ganz besonders zu: Bei ihnen ist Erdogan äußerst unbeliebt – sie wollen bei der Wahl am Sonntag alles tun, um den Präsidenten zu stoppen.

"Ruf eines Reformers"

Das war nicht immer so. In den Anfangsjahren seiner Regierungszeit im vergangenen Jahrzehnt erarbeitete sich der damalige Ministerpräsident Erdogan den Ruf eines Reformers und erhielt auch in Istanbuler Intellektuellen-Kreisen durchaus Anerkennung und Sympathien. Damals wurde er von Akademikern und Künstlern sogar gegen den Vorwurf des Islamismus verteidigt. Erdogans Politik brachte mehr Freiheitsrechte, ohne dass der fromme Muslim und eingefleischte Alkohol- und Zigarettengegner in den westlichen Lebensstil der Istanbuler eingriff.

Ein Ereignis an einem Sommerabend vor vier Jahren ist einer der Gründe, warum sich das geändert hat: Erdogans Fahrzeugkolonne nahm nach Einbruch der Dunkelheit auf der Rückfahrt von einer Moschee einen Weg durch die engen und mit Kneipentischen vollgestellten Gassen des Istanbuler Vergnügungsviertels Beyoglu. Vor der "Cuba Bar" sollen einige Gäste der im Gedränge stecken gebliebenen Limousine Erdogans mit ihren Wein-, Bier- und Schnapsgläsern fröhlich zugeprostet haben.

Der frühere Istanbuler Bürgermeister Erdogan ärgerte sich laut Presseberichten so sehr über das seiner Meinung nach respektlose Verhalten der Nachtschwärmer, dass er der "Cuba Bar" umgehend die Schanklizenz entziehen ließ. Außerdem räumte das Ordnungsamt kurz danach alle Kneipentische in Beyoglu von den Straßen – was einen Aufschrei der Empörung nach sich zog.

Die Zecher in Istanbul ärgerten sich auch in den Jahren darauf, als Erdogan mit neuen Gesetze jegliche öffentliche Alkoholwerbung verbot. Selbst Leuchtreklamen mit Biermarken über Bars und Restaurants sind seitdem nicht mehr erlaubt.

Noch mehr Feinde machte sich Erdogan im Mai und Juni 2013 mit der Niederschlagung der Gezi-Proteste. Damals engagierten sich viele junge Türken zum ersten Mal politisch – und machten unangenehme Bekanntschaft mit Tränengas und Wasserwerfern. Erdogan beschimpfte die Demonstranten als "Plünderer".

Einer dieser angeblichen Vandalen war Süha Yilmaz. Der heute 33-jährige, der sich früher von der Politik fernhielt, verbringt seit Gezi einen Großteil seiner Freizeit mit politischer Arbeit. Wie andere Gezi-Demonstranten wird er von dem Gefühl getrieben, der staatlichen Übermacht etwas entgegensetzen zu müssen. "Ich habe Freunde und Verwandte, die AKP wählen", sagt Yilmaz über Erdogans Regierungspartei. "Das ist überhaupt kein Problem. Das Problem ist der Regierungsstil."

Leute wie Yilmaz gibt es viele in Istanbul. Der 47-jährige Manager Mustafa Öztürk etwa, der seinen richtigen Namen nicht genannt wissen will, berichtet von langen Überlegungen in seinem Freundeskreis über die Frage, wie man Erdogans Ehrgeiz bremsen und das von ihm geforderte Präsidialsystem verhindern kann. Der Volkswirt Öztürk will am Sonntag die Kurdenpartei HDP wählen, obwohl er aus einer wohlhabenden Istanbuler Patrizierfamlie stammt, für die alle Kurden wegen des blutigen Aufstandes der Rebellengruppe PKK im Verdacht stehen, Terroristen zu sein.

Zügel für Erdogan

Die HDP ist nicht nur für Öztürk attraktiv geworden, denn die Kurdenpartei könnte helfen, Erdogan Zügel anzulegen: Wenn die HDP ins Parlament einzieht, dürfte Erdogan in der Volksvertretung kaum die Mehrheiten für die nötigen Verfassungsänderungen zur Einführung des Präsidialsystems finden.

Öztürk hat sich außerdem bei der Organisation "Stimme und mehr" als Freiwilliger gemeldet. "Stimme und mehr" will 120.000 Wahlbeobachter aufbieten, die am Sonntag den ganzen Tag und bis spät in die Nacht bei der Stimmabgabe und – noch wichtiger – bei der anschließenden Auswertung der Stimmzettel dabei sind.

Mehr noch als andere Türken sind liberale Istanbuler überzeugt, dass Erdogan und die AKP versuchen werden, die Ergebnisse der Parlamentswahl zu manipulieren.

Erdogan hat die regierungskritische Stimmung bei den liberalen Istanbulern selbst noch weiter angefacht. So höhnte er im Wahlkampf über andere Parteien, die homosexuelle Parlamentskandidaten aufgestellt hatten. In Istanbul kommen solche Töne überhaupt nicht gut an. Insbesondere im Nachtviertel Beyoglu tummeln sich Homosexuelle, Transvestiten und Transsexuelle.

Attacken auf Medien

In den vergangenen Wochen hat Erdogan zudem seine schon in normalen Zeiten regelmäßigen Attacken auf unbotmäßige Medien verstärkt. Zuletzt reichte er Strafantrag gegen Can Dündar ein, den Chefredakteur der Oppositionszeitung Cumhuriyet. Die Drohungen gegen Dündar haben insbesondere bei westlich ausgerichteten Istanbulern eine Solidaritätswelle ausgelöst. So verurteilte Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk das Vorgehen des Präsidenten. Auch andere Künstler wie die Schauspielerin Pelin Batu schlossen sich den Protesten an. Vom liberalen Istanbul hat Erdogan nicht mehr viel zu erwarten.

Am Morgen nach zwei Bombenattentaten mit vier Toten und 350 Verletzten auf die große Kundgebung in Diyarbakır/Amed (auf Kurdisch), DIE Metrole im Kurdengebiet in der Türkei, traf der KURIER eine Augenzeugin der zweiten, heftigeren Bombe.

Augenzeugin

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„Wir sind schon zwei, drei Stunden in der prallen Sonne gestanden und ein bisschen vom Zentrum der Kundgebung weg an den Rand gegangen. Wir standen in der Nähe einer Trafostation. Plötzlich gab es einen lauten Knall, alles hat zu Beben begonnen“, schildert die 33-jährigen Gurbet Toprakli dem KURIER, die eigentlich Xurbet heißt, aber das X war lange wie das Q und das W in der Türkei verboten, weil es aus dem kurdischen Alphabet stammt. Die kurdischen Sprachen waren bis vor wenigen Jahren auch verboten. „Bevor ich noch realisiert habe, was passiert ist, habe ich ungefähr 15, höchstens 20 Meter vor mir Verletzte gesehen, Menschen voller Blut, einen Jungen, dem ein halbes Bein fehlte.“ Obwohl das ganze Gelände voller Menschen war, „ist überhaupt keine Panik ausgebrochen, die Masse hat sich geteilt, eine breite Gasse offen gelassen, immer drei, vier Leute haben die Verletzten raus getragen. Auf einmal gab es Rauch, Tränengas.“

Und trotzdem keine Panik?

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„Nein, wissen Sie, das ist für die Leute hier Alltag, die leben damit.“ Natürlich Rufe, Schreie, Tränen, Menschen, die mit den Verletzten rauslaufen, aber besonnenes Reagieren. „Und mitten da drinnen saß an einem Randstein ein Junge, höchstens 15 Jahre alt und der spielte seelenruhig mit seinen Händen. Wir sind dann aus dem Gelände raus. Aus den Geschäften kamen Verkäufer und brachten Wasser und Zitronen. Die helfen gegen die mit Tränengas gefüllten Augen.“. Auch das sei normal, so die in Urfa geborene, in Deutschland aufgewachsene Frau, die am Sonntag wie viele andere Internationale als Wahlbeobachterin im Einsatz ist.

Wir sind alle Geschwister

Der Inhaber jenes Geschäftes, „in dem wir Zuflucht gesucht haben, um endlich normale Luft zu atmen“ hätte erzählt, dass er das seit 38 Jahren erlebe. Durch Gewalt von Polizei und Militär gegen die Kurdinnen und Kurden habe er selbst fünf Familienmitglieder verloren. „Als wir uns für das Wasser und die Zitronen bedankt haben, hat er gesagt: „Selbstverständlich, wir sind doch alle eins, alle Geschwister!“

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Trotz Bomben, Tränengas und Wasserwerfern blieben die Massen friedlich

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