Hans-Dietrich Genscher 89-jährig verstorben

Hans-Dietrich Genscher am 04.09.2013 in Wien.
Der frühere deutsche Außenminister starb im Alter von 89 Jahren.

Der langjährige deutsche Innen- und Außenminister sowie FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher ist am Donnerstag verstorben. Das teilte sein Büro am Freitag in Bonn mit. Genscher starb demnach im Alter von 89 Jahren an Herz-Kreislaufversagen.

Der 1927 geborene Politiker war von 1969 bis 1974 deutscher Innen- sowie von 1974 bis 1992 fast ununterbrochen deutscher Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Von 1974 bis 1985 war er außerdem Bundesvorsitzender der FDP.

Politisches Leben

Die Eckpunkte seines politischen Lebens waren zwei historische Höhepunkte und ein schwerer Tiefschlag. Der eine ist die dramatische Szene auf den Balkon in Prag 1989, als er tausenden verzweifelten DDR-Bürgern ihre Ausreise in den Westen ankündigte. Der andere ist der 2plus4-Vertrag, der faktische Friedensvertrag 1991 mit den ehemaligen Kriegsgegnern, dessen Architektur unter Beteiligung der beiden Deutschlands seine Idee war. Genscher war vermutlich einer der ersten, die die Bedeutung des damaligen sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschows für eine friedliche Absicherung der Wiedervereinigung erkannten.

Triumphe

Den politischen Triumphen vorangegangen war 1972 die Hölle von München: Die Erfahrung der totalen Machtlosigkeit beim Olympia-Massaker. Damals war er Innenminister im Kabinett von Willy Brandt.

18 Jahre stand er an der Spitze des Außenamtes. 23 Jahre war er Kabinettsmitglied. 33 Jahre saß er im Bundestag. Elf Jahre führte er die FDP, mit der er 1982 den fliegenden Koalitionswechsel zu Helmut Kohl vornahm.

"Ausreise"

Doch zurück zur aufwühlende Szene auf dem Balkon des ehemaligen böhmischen Adelspalais' Lobkowicz, der Deutschen Botschaft in Prag, am 30. September 1989: Von einem Herzinfarkt gezeichnet trat Genscher vor: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..."

Mehr war nicht zu verstehen. Der Rest des Satzes ging unter in einem markerschütternden Aufschrei der Erleichterung der über 4.000 auf dem Gelände eingepferchten Flüchtlinge. Insgesamt kamen mehr als 10.000 DDR-Flüchtlinge frei. Fünf Wochen später fiel in Berlin die Mauer. Der legendäre Satz von damals steht auf Deutsch und Tschechisch in voller Länge auf einer Bronzetafel in der Prager Botschaft.

Friedens- und Freiheitsbringer

Genscher eilte fortan der Ruf einer Art Friedens- und Freiheitsbringer voraus. Im Westen wurde er per Cartoon als allgegenwärtiger "Genschman" mit Superman-Anzug und dem charakteristischen gelben Pullunder ironisiert. Dazu passte der Genscher-Witz: Begegnen sich zwei Flugzeuge über dem Atlantik: In beiden sitzt Genscher.
Aber auf dem Balkan, wo schon wieder die Kriegslunte glomm, lagen ihm Slowenen und Kroaten für seine Politik der frühzeitigen Anerkennung zu Füßen. Die Albaner schossen den Vogel ab, als sie ihn 1992 in Ermangelung deutscher Fahnen mit gelben Pullundern an den Fahnenmasten empfingen und Tirana den "Sheshi Hans-Dietrich Gensher" (Genscher-Platz) bekam. Einen Monat danach trat er aus der Regierung aus.

Argwohn

Mit seiner Balkanpolitik machte er sich nicht nur Freunde: In London und Paris wuchs der Argwohn, das vereinigte Deutschland verfalle außenpolitisch wieder der Großmannsucht. In der Sicherheitspolitik sah sich Genscher persönlich dem Vorwurf der Glattheit ausgesetzt. Schon davor machte das Schmähwort vom "Genscherismus" die Runde.

Im Mittelpunkt seiner Außenministerjahre standen die Bemühungen um Abrüstung, um den Nahen Osten, um die Einigung Europas und der KSZE-Prozess.

1952: Eintritt in die FDP.

1969: Nach der Bundestagswahl ist Genscher maßgeblich an der Bildung einer sozialliberalen Koalition beteiligt und wird im Oktober als Innenminister in das Kabinett von Willy Brandt (SPD) berufen.

1972: Bei der Geiselnahme jüdischer Sportler während der Olympischen Spiele in München bietet sich Genscher als Austauschgeisel an, wird aber von den palästinensischen Terroristen abgelehnt. Den tödlichen Ausgang des Dramas sieht Genscher als persönliche Niederlage und bietet seine Rücktritt an.

1974: Während der Spionage-Affäre Guillaume gerät auch Genscher als oberster Dienstherr des Verfassungsschutzes (Inlandsgeheimdienst) unter Druck. Nach dem Rücktritt Brandts übernimmt er den Posten des Außenministers und Vizekanzlers unter Helmut Schmidt (SPD). Genscher löst zudem Walter Scheel als Vorsitzender der FDP ab.

1982: Austritt der FDP-Mitglieder aus dem Kabinett Schmidt. Genscher unterstützt, gegen den linksliberalen Flügel seiner Partei, Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU und setzt sich für das konstruktive Misstrauensvotum gegen Schmidt ein.

Oktober 1982: Nach der Wahl von Helmut Kohl (CDU) zum Bundeskanzler behält Genscher seine bisherigen Ämter. Zu seinen Zielen zählen die Weiterführung der Entspannungspolitik und des Ost-West-Dialogs mit der sich wandelnden UdSSR sowie das Zusammenwachsen Europas.

1985: Wegen Kritik an seinem Führungsstil gibt Genscher sein Amt als FDP-Parteivorsitzender an Martin Bangemann ab.

30. September 1989: "Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Nacht ihre Ausreise...". Das Satzende geht im Jubel Tausender DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft unter. Später sieht Genscher diesen Moment als Höhepunkt seiner politischen Tätigkeit.

Juli 1990: Historisches Treffen von Kanzler Kohl und dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow am Kaukasus. Im Beisein von Genscher gelingt der Durchbruch auf dem Weg zur deutschen Einheit.

1992: Der Vizekanzler und dienstälteste Außenminister tritt auf eigenen Wunsch von seinen Ämtern zurück und wird zum Ehrenvorsitzenden der FDP ernannt.

1998: Genscher scheidet nach 33 Jahren aus dem Bundestag aus.

Christian Lindner (FPD-Vorsitzender): "Genscher hat Geschichte geschrieben und unser Land geprägt. Wir haben ihm viel zu verdanken. Unsere Trauer kann nicht größer sein."

Philip Rösler (ehemaliger FDP-Vorsitzender): "In tiefster Trauer und voll von unendlichem Respekt vor Hans-Dietrich Genschers Leistungen für Deutschland, Europa und
die Welt."

Ralf Stegner (stellvertretender SPD-Vorsitzender): "Sicher der einflussreichste Freidemokrat der letzten Jahrzehnte. Erfahrener Außenminister und Mann der 'Wende'."

Frank-Walter Steinmeier (SPD, Außenminister): "Hans-Dietrich Genscher hat in seinem langen und bewegten Leben buchstäblich Geschichte geschrieben: die Geschichte unseres Landes, Deutschland, und Geschichte in Europa. Sein Platz in den Geschichtsbüchern ist ihm gewiss. Ein großer Deutscher und ein großer Europäer ist heute von uns gegangen."

Heiko Maas (SPD, Justizminister): "Große Trauer um Hans-Dietrich Genscher. Deutschland verliert einen großen Staatsmann."

Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter (Fraktionsvorsitzende der Grünen Deuschland): "Er prägte wie kaum ein anderer viele Jahre lang das Gesicht Deutschlands im Ausland. Er hat maßgeblich zur europäischen Einigung beigetragen und die Entspannungspolitik vorangetrieben."

Michael Roth (SPD, Staatsminister im Auswärtigen Amt): "Hans-Dietrich Genscher war in meiner Jugend der 'ewige' Außenminister und hat das Amt geprägt. Möge ihm jetzt die ewige Ruhe beschieden sein."

Gerhard Schröder (SPD, ehemaliger Kanzler): "Genscher war ein großer deutscher Politiker, der Deutschlands Rolle in der Welt geformt und gefestigt hat. Der friedliche Ausgleich von Interessen mit den Mitteln der Diplomatie war seine Mission."

Sebastian Kurz (ÖVP, Außenminister): "Der Außenminister der deutschen Wiedervereinigung hat es stets verstanden, die Interessen seines Landes mit den übergeordneten Interessen eines in Frieden, Stabilität und Prosperität vereinten Europa zu verbinden. Mein tief empfundenes Beileid gilt seiner Familie.“

Rainhold Lopatka (ÖVP-Klubobmann): "Der langjährige deutsche Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher war nicht nur Architekt für ein einiges Europa, sondern auch einer der Baumeister der Deutschen Wiedervereinigung."

Matthias Strolz (NEOS-Klubobmann): "Mit Genscher geht ein Stück Geschichte. Kein anderer Außenpolitiker unserer Zeit hat so viele historische Momente in Europa mitgestaltet wie er"Mit Genscher geht ein Stück Geschichte."

Andreas Schieder (SPÖ-Klubobmann): "Mit Hans-Dietrich Genscher ist ein exzellenter Außenpolitiker, weitsichtiger Europäer und Brückenbauer von uns gegangen. Als Chefdiplomat der deutschen Einheit wird er der Weltpolitik in Erinnerung bleiben."

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