Große Ratlosigkeit in Europa
Durchforstet man die zahllosen Wortmeldungen der letzten Wochen zum Flüchtlings- und Migrationsnotstand, stößt man allerorts – sieht man einmal von der Hetze gegen die "Fremden" durch die Rechten ab – auf Empörung über die menschlichen Tragödien, Appelle zu mehr Humanität und vor allem auf große Ratlosigkeit.
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck nennt die Angriffe auf Asylquartiere "widerwärtig und unerträglich". Und er stellt die Frage: "Vor 70 Jahren hat ein armes und zerstörtes Deutschland Millionen Flüchtlinge zu integrieren vermocht. Warum sollte ein wirtschaftlich erfolgreiches und politisch stabiles Deutschland nicht fähig sein, in gegenwärtigen Herausforderungen die Chancen von morgen zu erkennen?"
"Dumpfe Vorurteile"
Altkanzler Helmut Schmidt verurteilt die Pegida-Demos als Appelle an "dumpfe Vorurteile an Fremdenhass und Intoleranz". Ex-Kanzler Gerhard Schröder fordert einen neuen "Aufstand der Anständigen". Und dass der "Zuchtmeister der Nation", Wolfgang Schäuble, betont, "Deutschland braucht Zuwanderer", mag den Pegida-Leuten, aber auch den bayrischen Scharfmachern à la Seehofer nur mit ein paar Maß Bier die Gurgel runter gehen.
Zugleich fordert Helmut Schmidt aber "eine europäische Seepolizei (…), um den Strom der Bootsflüchtlinge einzudämmen und zu regulieren". Sonst könnte es an der Südgrenze Europas zu dauerhaften Konflikten mit immer mehr Flüchtlingen aus Afrika kommen – eine Art Krieg ohne Kriegserklärung.
Also doch eine Festung Europa. Unwillentlich kommt auch der Starphilosoph Peter Sloterdijk in die Nähe dieser These. Die Wohlstandsgesellschaften hätten kein probates Mittel, um sich gegen die neuen Völkerwanderungen zur Wehr zu setzen: "Man kann es machen wie die Kanadier oder die Australier oder die Schweizer. Dabei geht es jedes Mal darum, dass eine Nation, eine allzu attraktive Nation, ein Abwehrsystem aufrichtet, zu dessen Konstruktion so etwas wie eine wohltemperierte Grausamkeit vonnöten ist. Das ist nun das Hauptproblem: Die Europäer definieren sich selber als gutartig und nicht grausam, und es gibt aber auch eine entsprechende Publizistik, die erste Ansätze zu einer defensiveren oder grausameren Grundhaltung sofort als Zivilisationsschande höchster Größenordnung denunzieren."
Dem hält wiederum eine namhafte Stimme die Humanität entgegen. Navid Kermani, Deutsch-Iraner und Orientalist, ausgezeichnet mit einem Dutzend hoher Preise, darunter dem heurigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er war Festredner vor dem deutschen Bundestag zum 65. Jahrestag des deutschen Grundgesetzes und meinte: "Deutschland muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen. Aber es hat genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen. (…) Und es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben."
"Kein klares Konzept"
Und der angesehene Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, Heribert Prantl: "Wir haben nach wie vor kein klares Konzept. Wir drücken alle Menschen, die kommen wollen, durch das Tor, auf dem ,Asyl‘ steht. Es gibt kein zweites Tor, auf dem ,Einwanderung‘ steht (…) Es gibt die Menschen, die uns brauchen, die Flüchtlinge – und es gibt die Menschen, die wir brauchen, die Einwanderer (…) Wir haben eine unglaublich positiv eingestellte Zivilgesellschaft, die ganz anders ist als vor 30 Jahren. Die allermeisten sagen natürlich nicht mehr ,das Boot ist voll‘, die sagen ,wir müssen helfen‘ und die wollen helfen. Ich glaube, die Politik könnte sich diese positive Einstellung zunutze machen.
In Frankreich äußern die Profis des humanitären Engagements und etablierten Promis ihre Empörung in kurzen Radio- und TV-Interviews, aber echte Reflexion findet kaum statt. Natürlich ereifert sich der Vertreter "humanitärer Einmischung" bis hin zu Militäraktionen, Bernard Henry-Levy, über die humanitäre Katastrophe – aber außer dem Appell, die im Mittelmeer Ertrinkenden zu retten, hat auch er keine Konzepte zur Lösung anzubieten. Der Mitbegründer der Organisation "Ärzte ohne Grenzen", Bernard Kouchner, Arzt und später selbst Außenminister, erschöpft sich auch in allgemeinen Appellen zur Humanität.
Für Furore sorgte hingegen die ehemalige grüne Wohnungsministerin Cécile Duflot. Sie schrieb einen heftigen, öffentlichen Brief an den Staatspräsidenten. Darin erinnert sie an das Selbstverständnis Frankreichs als "Terre d’acceuil", als Gastland für alle Verfolgten. In der Tat hat Frankreich während des spanischen Bürgerkrieges und während der Krise der Boat people aus Vietnam Millionen von – damals eindeutig politischen – Flüchtlingen aufgenommen und letztlich auch problemlos integriert. Kein Vergleich zu heute. Frankreichs Asyl- und Einwanderungspolitik zählt zu den repressivsten: Illegal in Paris campierende Flüchtlinge wurden von Polizei-Sondereinheiten wiederholt mit brachialer Gewalt und Tränengas vertrieben, ohne Sorge, wohin die wohl gehen würden. Duflot spricht von "moralischem Waterloo".
Ganz anders die Situation in Italien. Rein zahlenmäßig nimmt Italien gar nicht mehr Flüchtlinge auf als die übrigen EU-Staaten. Aber da gibt es einen wesentlichen Unterschied. Die Südküste Italiens (ebenso wie Griechenlands und Maltas) erlebt die massive Ankunft der Hilfesuchenden täglich zu Hunderten, ja Tausenden. Die Erstversorgung ist eine extrem schwierige, an ökonomischen, menschlichen und psychologischen Ressourcen zehrende, Aufgabe. Ohne die enorme Hilfsbereitschaft der lokalen Bevölkerung wäre diese seit Jahren währende Notsituation längst explodiert.
Zynisch
Da klingt es geradezu zynisch, wenn die anderen EU-Staaten den Italienern vorwerfen, sie würden die Registrierung der Ankommenden nicht streng genug vornehmen und sie einfach "weiterschicken". Behörden, Helfer und Freiwillige haben andere Sorgen als die Papierbürokratie irgendwelcher Dublin-Abkommen.
Roberto Saviano, berühmt geworden mit seinem Buch und Film "Gomorrha" über die Mafia, ist in Italien mittlerweile eine viel gehörte moralische Autorität. Er meint: "Die Einzigen, die derzeit das verkörpern, was Europa sein sollte, sind die Italiener. Jene vielen Italiener, die täglich Menschenleben retten – und das, obwohl sie damit in Konflikt mit dem Gesetz kommen können" (jeder Fischer, der einen Flüchtling aus dem Meer in sein Boot nimmt, gilt derzeit als Schlepper).
Exzellenter Denker
Die sicher weiseste Sicht auf die großen Umwälzungen hat jedoch einer der exzellentesten Denker unserer Zeit formuliert: der Schriftsteller, Historiker und Philosoph Umberto Eco. Schon 1990, vor 25 Jahren, verglich er unsere heutigen Migrationsströme mit den Völkerwanderungen der Geschichte. "Sicher haben (diese Migrationsbewegungen) nicht denselben gewaltsamen Charakter wie die Invasionen der germanischen Völker in Italien, Frankreich und Spanien – und nicht die Heftigkeit der arabischen Expansion nach der Hidschra (…) Aber es ist ein neues Kapitel der Geschichte unseres Planeten, die die Bildung und Auflösung ganzer Zivilisationen als Folge großer Migrantenflüsse gesehen hat (…) Die heutige Migration von einem immer ärmeren und kargeren Süden in Richtung Norden ist ein historisches Ereignis mit unberechenbaren Folgen..(…) Und wie alle großen Migrationsbewegungen wird das Ergebnis eine völlige ethnische Neuordnung sein, eine unerbittliche Veränderung der Sitten, eine unaufhaltbare Kreuzungs-Mischung, die die Hautfarbe der Menschen, die Farbe der Haare und der Augen verändern wird – so wie es seit den Normannen in Sizilien blonde Menschen mit blauen Augen gibt." Eine historische Entwicklung in Zeiten der ungebremsten Globalisierung, die wir möglichst menschenwürdig leiten und lenken sollten, aber mit der wir zu leben lernen müssen.
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