Zwischen Familienfeier und Nationalheiligtum

Kämpfte einst im Kanalsystem: Edmund Baranowski
Die Hauptstadt erinnert an einen verzweifelten Kampf und feiert die letzten Helden.

Wer ältere Menschen in Warschau im Bus belauscht, der merkt, dass sie manchmal in einer anderen Zeitzone leben. "Da, hinter den Mauern des evangelischen Friedhofs, da hockten die deutschen Scharfschützen!" ruft ein älterer Herr und zeigt aus dem Fenster. Die Männer, die im Bus durch den Stadtteil Wola fahren, leben im Warschauer Aufstand, der sich am Freitag zum 70. Mal jährt. "Die Erinnerung bleibt für immer", meint der 88-jährige Edmund Baranowski, der heute stellvertretender Vorsitzender des "Verbunds der Warschauer Aufständischen" ist.

Um 17 Uhr, am 1. August 1944, schlug die polnische "Heimatarmee" (AK), die größte militärische Untergrundorganisation im besetzten Europa, los.

Der herannahenden Roten Armee sollte so eine bereits unabhängige polnische Hauptstadt präsentiert werden. "Wir dachten, die Kämpfe dauern drei bis vier Tage", so Baranowski. Doch die Aufständischen konnten wichtige Schlüsselpositionen der Deutschen nicht einnehmen. Zudem eroberten die sowjetischen Truppen nur den kleineren Teil der Stadt an der Ostseite der Weichsel und griffen nicht in die Kämpfe am anderen Ufer ein.

Warschau glich kurz nach der Erhebung einem Puzzlemuster – Teile der Stadt waren von den Aufständischen unter Kontrolle, Teile von deutschen Einheiten.

Edmund Baranowski gehörte der kampferprobten Einheit "Miotla" (Besen) an, die sich zwischen den polnischen Teilen in den Abwasserkanälen bewegte, immer von deutschen Flammenwerfern bedroht.

Die deutschen Besatzer schlugen den Aufstand in 63 Tagen nieder. Als besonders grausam gilt die Ermordung von etwa 40.000 Einwohnern des Stadtteils Wola durch Massenerschießungen oder Sprengung bewohnter Häuser durch SS-Einheiten, die von außen die Stadt erreichten. Es ist das singulär größte Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs und international kaum bekannt.

"War es das wert?"

Nach dem Ende der Kämpfe befahl Heinrich Himmler, Reichsführer SS, die Zerstörung der Stadt durch Sprengung. Etwa 85 Prozent Warschaus westlich der Weichsel, der Hauptteil der Stadt, war nach Ende des Krieges vernichtet. Immer wieder wird darum auch heute die Frage gestellt: "War es das wert?" Von den polnischen Kombattanten starben etwa 20.000, bis zu 200.000 Einwohner kamen ums Leben.

Lange wurde den ehemaligen Aufständischen in der Volksrepublik Polen angelastet, eine bürgerliche, antikommunistische Opposition zu sein. Erst nach Stalins Tod, nach dem "Tauwetter" 1956, durften sie sich offiziell organisieren, wurden jedoch vom Staat beobachtet.

Heute erfahren die betagten Kämpfer einen Kultstatus, der mit vielen Filmen, Konzerten, Graffiti und Comics gefeiert wird. Die Stadt ist voller Mahnmale und Tafeln, die an das Kämpfen und Sterben der Soldaten der Heimatarmee erinnert. Im Nationalstadion feiert der Spielfilm "Stadt 44" seine Premiere.

Da viele Warschauer Eltern, Großeltern oder andere Verwandte haben, die am Aufstand teilnahmen, hat das Gedenken, zu dem etwa 1000 Veteranen aus aller Welt reisen, auch den Charakter einer Familienfeier.

Wenn Edmund Baranowski durch seine Stadt geht, etwa durch die geschäftige "Neue Welt"-Straße, so sieht er immer noch das alte Warschau vor 1939, erzählt er mit wehmütigem Lächeln. Die Erinnerung vergeht schließlich nie.

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