Wir wollen alles und versäumen das Beste

Sandra Baierl

Sandra Baierl

Unser größtes Ziel, das Leben voll und in allen Möglichkeiten auszukosten, gelingt immer weniger.

von Mag. Sandra Baierl

zur rastlosen Gesellschaft

Es ist eine moderne Tragödie. Wir können alles tun, alles. Und gerade diese Vielzahl an Möglichkeiten wird zum Problem. Weil alle Wege offen sind, die Grenzen undefiniert, das Angebot unüberschaubar groß, die Aufgaben nie enden, hören wir auch niemals auf zu laufen. Wir hören gleichzeitig nicht mehr auf uns selbst, hasten zum Nächsten, noch schneller – und versäumen dabei das Leben.

Der Soziologe Hartmut Rosa spricht in seinem Buch vom Phänomen der rutschenden Abhänge: „Der Kapitalist kann sich keine Pause gönnen und ausruhen, das Rennen unterbrechen und seine Position stabilisieren, da er entweder auf- oder absteigt. Es gibt keinen Punkt des Gleichgewichts, denn stillzustehen bedeutet zurückzufallen, wie sowohl Marx als auch Weber erkannt haben. In der Wettbewerbsgesellschaft haben wir den Eindruck, auf einem rutschenden Hang zu stehen: Sich eine etwas ausgedehntere Pause zu gönnen bedeutet, altmodisch, nicht mehr aktuell, anachronistisch zu sein ...“

Wir irren

Wie bei Touristen auf Reisen, die die Wirklichkeit nur noch hinter der Digicam wahrnehmen, eilen Situationen unerlebt an uns vorüber. Im Dauerlauf verirren wir uns, erleben und spüren Situationen nicht mehr, mühen uns ab, schlafen immer weniger und entkoppeln uns von der Gegenwart – weshalb in unserer Wahrnehmung die Zeit auch immer schneller vergeht.

Unser größtes Ziel, das Leben voll und in allen Möglichkeiten auszukosten, gelingt dadurch immer weniger. Rastlos verpassen wir die schönsten Momente und die größten Gefühle, weil wir in Gedanken schon längst wieder weitergezogen sind.

Es ist Zeit, den teuflischen Pakt mit der Beschleunigung zu brechen und zum Augenblick zu sagen: Verweile doch, du bist so schön.

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