Song Contest: Gesangs-Diplomatie

Polina Gagarina vertritt Russland, aber welchen Stellenwert hat der Song Contest dort?
Die Österreicher waren jahrelang Song-Contest-skeptisch. Dann kam Conchita – und auf einmal galt der viel verachtete Singbewerb als cool. Aber wie sieht das in anderen Teilnehmerländern aus? Eine politische Spurensuche.

Andy Mikheev ist Gründer der größten osteuropäischen Song-Contest-Fansite esckaz.com. Im KURIER-Interview beschreibt er den Stellenwert des Contests in Russland.

KURIER: Wie beliebt ist der ESC bei Ihnen?

Andy Mikheev: Es ist wahrscheinlich eine der meistgesehenen Sendungen. Aber ich glaube, dass das Interesse nach dem russischen Sieg 2008 etwas zurückgegangen ist. Das Ziel war damit erreicht – und seitdem haben keine populären russischen Künstler mehr teilgenommen.

Wie wurde Conchitas Sieg in Russland aufgenommen?

Es gab große Diskussionen darüber, große Talkshows im russischen Fernsehen, in denen Conchita nicht gut wegkam. Sie wurde als böse Repräsentantin der europäischen Werte dargestellt – im Unterschied zu den "reinen" russischen Werten.

Wo sind die fünf Punkte aus Russland dann hergekommen?

Conchita hat jene hinter sich versammelt, die die russische Regierung nicht unterstützen. Es war ein politisches Statement. Eine Proteststimme – nicht so sehr für Conchitas Beitrag, sondern gegen die russische Politik.

Geplant war, dass heuer wieder der "Intervision Song Contest", ein ursprünglich sowjetisches Pendant zum ESC, stattfinden soll.

Das wurde gleich nach Conchitas Sieg bekannt gegeben. Dann gab es eine Vorauswahl, die allerdings nie im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Seitdem ist nichts passiert. Ich glaube nicht, dass das jemals stattfinden wird.

Wie groß ist das Interesse am heurigen Song Contest bzw. an Polina Gagarina?

Sie ist derzeit wahrscheinlich die populärste Sängerin des Landes. Aber am Beginn, noch bevor sie gefragt wurde, stand die Botschaft. Es geht dem russischen TV darum, zugleich eine Friedensbotschaft nach Europa zu schicken und dem eigenen Volk mitzuteilen, dass die russischen Werte den europäischen überlegen sind. Das ist das größere Bild, der Song Contest ist nur ein kleiner Teil davon.

Die Israelis dürften zum Song Contest ein ähnliches Verhältnis haben, wie es die Österreicher die längste Zeit hatten: "In den Medien wird viel darüber gewitzelt", sagt Alon Amir, der bereits für mehrere Länder als Song-Contest-Pressechef gearbeitet hat. "Meiner Meinung nach ist das ein Missverständnis. Viele Journalisten verstehen nicht, welches Potenzial in diesem Bewerb steckt."

Building Bridges

Als Beispiel nennt er den Beitrag, den Israel 2009 zum Song Contest schickte: "There must be another way" wurde von einer jüdischen und einer arabischen Israelin gemeinsam gesungen und handelte vom Wunsch nach Frieden und Einigkeit. "Es ging nicht darum, den Bewerb zu gewinnen, sondern um die Botschaft", sagt Amir, der die beiden Frauen damals zum Song Contest nach Moskau begleitete. "Wir haben 300 Interviews in internationalen Medien gegeben. Es ist uns gelungen, den ESC als Brücke zu verwenden – nicht zur zwischen Israel und Europa, sondern auch zwischen Arabern und Israelis."

Der Staat mische sich in Israel nicht in die Song-Auswahl ein, sagt Amir, es sei Sache der Künstler, welche Botschaften sie transportieren wollen. Wobei die Vorauswahl nicht einheitlich organisiert sei. Heuer etwa tritt für Israel der 16-jährige Nadav Guedj an – er gewann eine Castingshow, deren Hauptgewinn die Teilnahme war.

Dana und Conchita

Conchitas Sieg im Vorjahr wurde in Israel wohlwollend wahrgenommen: "Wir sind das Land, das (die transsexuelle; Anm.) Dana International zum Song Contest geschickt hat! Als sie 1998 gewonnen hat, hat das in Israel sehr viel verändert. Wir hatten diese Diskussionen also schon: Über Homo-Rechte; darüber, sein zu dürfen, wer du bist und so weiter. Ich war überrascht, dass Conchita Wurst in Europa so eine Ikone geworden ist. Es war weniger ein Sieg des Songs als seiner Bedeutung. Mit ihr hat Europa gezeigt, dass es tolerant ist – auch in Hinblick auf Russland."

KURIER: Was ist besonders an diesem Song Contest in Wien?

Es ist die 60. Ausgabe, was allein schon besonders ist. Der Song Contest war schon überall – von Irland bis Baku, von Moskau bis Athen und Istanbul, jetzt ist er im Herzen Europas. Ich war sehr stolz, als ich das Wort "Vienna" unter dem Song-Contest-Logo gesehen habe.

Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass Australien heuer teilnimmt. Wie ist es dazu gekommen?

Australien strahlt den Song Contest seit mehr als 30 Jahren aus. Sie haben die EBU vor ein paar Jahren kontaktiert und gefragt, ob es irgendeine Chance gibt, dass sie teilnehmen. Wir haben das mit dem ORF und unseren anderen Mitgliedern diskutiert und sind zu dem Schluss gekommen: wenn schon, warum dann nicht heuer, wenn wir in Wien ein Geburtstagsfest feiern?

Gab es Einwände?

Nein, nur positives Feedback. Ich glaube, dass jeder sieht, dass Australiens Teilnahme ein bisschen Würze und Überraschung in den Song Contest bringt. Es sind natürlich viele Fragen aufgetaucht: Kann jetzt jedes Land teilnehmen? Was ist mit Europa? Aber der Song Contest sollte nicht auf Europa, wie wir es kennen, beschränkt sein.

Wieso nehmen die arabischen Länder in Nordafrika nicht teil?

Marokko war schon einmal dabei. Ich glaube, es ist eine kulturelle Frage – ihr Musik- und Unterhaltungsgeschmack ist ziemlich unterschiedlich. Viele dieser Länder hatten in den letzten Jahren mit internen Problemen zu kämpfen und fühlten sich vielleicht nicht in der Lage, teilzunehmen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass wir nicht von Ländern, sondern von Rundfunkanstalten sprechen. Es ist kein Bewerb zwischen Ländern, sondern zwischen Mitgliedern der EBU. Aber ich hätte wirklich gerne mehr Länder bzw. Sender dabei.Irgendwelche Chancen, dass Länder wie Algerien oder Tunesien überredet werden können?Ja, sicher. Wenn nicht nächstes Jahr, dann vielleicht in einem der darauffolgenden Jahre. Wir haben gute Gespräche geführt – wir sprechen jedes Jahr mit ihnen – , und es gibt Interesse.

Inwiefern sehen Sie den ESC als politisches Ereignis? Explizite politische Botschaften sind ja verboten.

Jedes Event dieser Größe, das in ganz Europa ausgestrahlt wird, ist automatisch auf gewisse Weise politisch. Das lässt sich nicht vermeiden. Aber die Frage ist, was Sie unter politisch verstehen. Es geht hier nicht um Politik im herkömmlichen Sinne, aber es bedeutet viel für die teilnehmenden Ländern – vor allem für die kleinen. Estland zum Beispiel hat 2002 die Gelegenheit genützt, zu sagen, hey, schaut her, es gibt uns jetzt!

Conchitas Sieg im Vorjahr wurde ja auch als gesellschaftliches Statement wahrgenommen – was nicht jedem gefallen hat. Hat es Ihnen gefallen?

Zum einen: Conchita war im letzten Jahr eine großartige Botschafterin für den Song Contest – es war der TV-Moment des Jahres und hat den Song Contest in die ganze Welt getragen. Ich fand ihren Auftritt toll. Und sie hat ihn ja nicht für eine Kampagne genutzt, sie ist eine wahre Künstlerin und das gefällt mir sehr an ihr.

Spielt der Song Contest für die europäische Identität eine Rolle?

Er zeigt, wie unterschiedlich wir sind – und wie ähnlich. Der Song Contest ist etwas Besonderes. Sollte er sich irgendwann zu einer normalen Popshow entwickeln, wird sich niemand mehr dafür interessieren.

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