Gretchen nimmt ein gottloses Ende

Honorarfrei. Schauspielhaus Graz. FAUST Premiere am 15. Dezember 2012
Graz: Starregisseur Peter Konwitschny inszeniert am Schauspielhaus Goethes Weltendrama „Faust“.

Gott ist Tod und das Pathos gleich mit ihm gestorben. Peter Konwitschny macht den „Faust“ – und rechnet mit Türen knallendem Publikum. Premiere ist am 15. 12.

KURIER: Sie arbeiten zum zweiten Mal am Schauspielhaus Graz. Davor war 2009 König Lear. Graz hat's Ihnen angetan.
Peter Konwitschny: Ja. Graz ist meine Nebenstelle.

Warum jetzt den „Faust“?
Zugegeben, es ist ein bisschen Hybris dabei. Aber wenn man einen Schauspieler wie Udo Samel hat, muss man ein adäquates Stück machen. Und da haben wir halt hoch gegriffen. Es ist ein Stück zur Zeit. Besonders der zweite Teil ist eine Entdeckung. Wir spielen beide Teile an einem Abend in vier Stunden. Auf diesem Weg ist klar, dass eine Menge wegfällt. Da uns die Entwicklung im zweiten Teil besonders interessiert, ist der erste Teil ziemlich schmal geworden. Es gibt keine Frau Marthe, keinen Bruder Valentin. Der erste Teil ist sehr stringent, fast ein Prolog für den zweiten.

Ich habe gehört, es ist noch ein Viertel Goethe.
Kann man so sagen. Ein Viertel bis ein Drittel. Natürlich ist das heftig. Die Schlüsselszenen, die mir wichtig waren: Was ist mit dem lieben Gott? Man muss leider sagen, dass Gott schon im 19. Jahrhundert gestorben ist. Dafür haben wir die Geldwerdung Gottes und die Gottwerdung des Geldes. Ich zitiere Heinrich Heine. Goethe hat sein Werk geschrieben, bevor das Unglück der Sklaverei des Kapitalismus über uns gekommen ist. Also kann man’s so wie er vielleicht wollte, nicht mehr spielen.

Die Schaltstellen sind also?
Die Geschichte mit der Frau. Die geht voll in die Hose. Danach sagt Faust: Ich fühle neue Kräfte für größte Aufgaben. Fausts Ruhelosigkeit, ist etwas, das wir alle sehr gut kennen. Mephisto führt ihn also in die große Welt, an den Kaiserhof, wo er das Papiergeld, eine Fake-Währung, erfindet, die uns hier, heute, in eine größere Katastrophe führen wird. Dann sind wir bei der Erfindung des künstlichen Menschen dabei – auch etwas,
das uns sehr nahe gekommen ist. Das dritte ist die Landgewinnung samt Kollateralschaden Philemon und Baucis. Da muss man nicht viel Fantasie haben, um das aufs Heute umzumünzen.

Ich bleibe an „Sklaverei des Kapitalismus“ kleben.
Es ist erstaunlich, dass mit dem Zusammenbruch des Kommunismus uns die Wahrheit des kapitalistischen Systems viel näher gerückt ist. Als der Osten noch war, gab’s die Möglichkeit, auf den Gegner zu schimpfen und ihm nachzuweisen, was er alles falsch macht. Das galt für beide Lager. Jetzt ist die Alternative untergegangen – und der Kapitalismus ist nicht in der zyklischen, sondern in der Totalkrise angekommen. Diesen Gedanken muss man nur verfolgen. Ich werde wohl Türenknallen in Kauf nehmen müssen, wenn kein Osterspaziergang kommt.

Sie bürsten gerne gegen den Strich. Wie ist es diesmal?
Gegen den Strich gebürstet wird das Pathos. Da legen wir Hand an. Besonders beim Gretchen. Vor allem, wenn Männer inszenieren, wird in diese Frau oft so eine Heiligkeit hineininterpretiert. Das findet bei uns nicht statt. Das wirklich Tragische liegt im Gesamtgefüge. Es gibt auch keinen Teufel, der von den Engelchen gefoppt wird, so dass es heiter-ironisch zu Ende geht. Dafür bleibt am Schluss die Mater gloriosa, durch die Faust vergeben wird. Dennoch, obwohl er sich so vergangen hat. Das ist eine Sache, die jenseits unserer Rechtssprechung ist. Das ist Gnade. Das bringen wir, weil uns scheint, wenn es überhaupt eine Hoffnung gibt, dann die.

Und Gretchen? „Sie ist gerichtet.“ „Nein, gerettet. “
Da haben wir einen gottlosen Schluss.

Wir Frauen müssen’s ausbaden.
In mir haben Sie einen solidarischen Freund. (Er lacht.)

Die Beschäftigung mit „Faust“ ist eine lebenslängliche. War Ihre erste Begegnung auch die als Schullektüre?

Dazu eine witzige Geschichte. Ich bin im Osten groß geworden. Und als ich etwa zehn war, wurden sämtliche Schüler aller Klassen in die Aula gerufen, dann trat ein Schauspieler vom Leipziger Theater auf, der die letzten Verse von „Faust“ rezitiert hat. „Ein Volk auf freiem Boden ...“ mit unglaublichem Pathos vorgetragen. Weil nämlich, das wurde uns so eingebimst, Goethe da schon den realen Sozialismus vorweggenommen hat. Das werde ich nie vergessen.

Jan Thümer ist ein optisch junger Faust.
Es gibt ja alle möglichen Besetzungsvarianten. Erst ist er alt, dann jung, dann steinalt. Und man wechselt die Schauspieler. Jan Thümer muss sich Alt- und Jungsein erspielen. Es gibt auch kein Gebräu einer Hexe; bei uns ist das ein Sexualakt mit einer ganz tollen Frau – das befreit den intellektuellen Bücherwurm, und nicht, dass er eine „Arznei“ zu sich nimmt.

Udo Samel, der auch schon Ihr König Lear war, ist auch nicht der typische Mephisto.
Auch das geht gegen das Pathos. Udo Samel ist ein exzellenter Schauspieler, vom Typ aber eher ein clownesker Mensch. Klein, untersetzt, erst einmal unscheinbar. Er muss heftig arbeiten, er hat mit diesem Faust schwer zu schuften. Es ist nicht so, wie viele das spielen, dass er nur zynisch lächeln muss und alles richtet sich. Außerdem, vergessen Sie nicht: Wenn Gott tot ist, gibt’s auch keinen „Teufel“. Mehr verrate ich nicht.

Faust, der hochgebildete Depressive, der verzweifelt Suchende – eine Figur, mit der Sie sich identifizieren können?
Zum großen Teil. Auch in dem, der Schwierigkeiten hat, zu genießen, dem die Gegenwart so durch die Finger rinnt. Und auch mit dem, der Beziehungsangst hat, der ein Gretchen haben will, und wenn er sie hat, sie flieht.

Weitere Pläne?
Wir arbeiten an „Jenůfa“, die wir in einem Jahr an der Grazer Oper machen. Ich habe den schönsten Beruf. Ich wechsle von Goethe zu Janáček, zu Verdi, zu Wagner. Was will man mehr?

Ein unkonventioneller Theatermacher

Zur Person Peter Konwitschny, Jahrgang 1945 und Sohn des Dirigenten Franz Konwitschny, wuchs nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Leipzig auf, wo sein Vater Gewandhaus-Kapellmeister war. Er studierte an der Berliner Hanns Eisler Hochschule für Musik Regie – und wurde bald für seine polarisierenden Inszenierungen und szenischen Neuinterpretationen an den großen Opernhäusern berühmt. Und berüchtigt.

Arbeiten Nach dem Mauerfall inszenierte Konwitschny Puccini und Rossini in Graz, Leipzig und Basel, ab Mitte der 1990er-Jahre mit Vorliebe Wagner. Nicht nur seine Dresdner „Csárdásfürstin“ im Jahr 2000, in einen Schützengraben des Ersten Weltkriegs verlegt, geriet zum Skandal. 2009 inszenierte Konwitschny mit „König Lear“ (dargestellt von Udo Samel) am Schauspielhaus Graz erstmals wieder am Sprechtheater.

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