Expertin fordert Akteneinsicht für Eltern

Die österreichischen Jugendämter werden von den Autoren sehr scharf kritisiert.
Jugendanwältin kann Kritik an Kindesabnahmen nachvollziehen - Wiener Jugendamt weist Vorwürfe zurück.

Eine Kindesabnahme ist immer dramatisch“, sagt Andrea Holz-Dahrenstaedt, Salzburger Kinder- und Jugendanwältin. „Denn Kinder lieben ja auch schlagende Eltern.“ Dennoch sei es in gefährlichen Situationen oftmals notwendig, Kinder aus ihren Familien zu nehmen. Holz-Dahrenstaedt reagiert damit auf die herbe Kritik an der österreichischen Jugendwohlfahrt durch die beiden Autoren Johann Missliwetz und Angelika Schlager (siehe Interview unten). In dem neuen „Schwarzbuch Jugendwohlfahrt“ ziehen die beiden gegen Jugendämter, Familiengerichte und Gutachter zu Felde.

„Es hat sich in den letzten Jahren sicherlich auch viel verbessert“, sagt Holz-Dahrenstaedt. „Es gibt eine qualitativ bessere Ausbildung. In der Jugendwohlfahrt selbst hat es große Reformen gegeben.“ Sie erkennt aber auch „sicherlich nach wie vor Handlungsbedarf“. Problematisch sieht die Kinder- und Jugendanwältin das Lohndumping im Sozialbereich. „Die Jugendämter haben viel zu wenige Sozialarbeiter, weil die anderswo mehr verdienen.“

Amtsmitarbeiterinnen könnten oft wegen Arbeitsüberlastung „nur mehr Feuerwehr spielen“ – also im Ernstfall einschreiten, statt präventiv zu arbeiten, um Kindesabnahmen zu verhindern. „Das sind Schlüsselkräfte der Gesellschaft, die zu niedrig bezahlt werden. Aus finanziellen Gründen können nicht immer Maßnahmen gesetzt werden, um mit Eltern die Situation vorab abzuklären.“ Hier fordert Holz-Dahrenstaedt eine Aufwertung der Sozialarbeit, um Kindesabnahmen durch vorausschauende Maßnahmen möglichst gering zu halten: „Denn Fremdunterbringung ist einer der größten Eingriffe in ein Leben.“

Als „strukturelle Kinderrechtsverletzung“ bezeichnet die Salzburgerin den Mangel an begleitender Unterstützung für Familien quer durch die Bundesländer. „Da gibt es lange Wartelisten.“ Zudem fordert sie österreichweit einheitliche Stellen „wie therapeutische Mutter-Kind-Einrichtungen, wo die Abklärung stattfindet, ob eine Mutter mit der Erziehung zurechtkommt.“ Prävention statt Kindesabnahme. „Fremdunterbringung ist aus kinderrechtlicher und ökonomischer Sicht problematisch“, sagt Holz-Dahrenstaedt. „Prävention rechnet sich.“ Selbstverständlich müsse es aber einem Jugendamt möglich sein, bei Gefahr im Verzug einzuschreiten, und, wenn notwendig, die Kinder vor prügelnden Elternteilen in Sicherheit zu bringen. „Die Behörde muss kontrollieren, auch wenn manche Eltern das nicht wollen.“

„Das Kind muss im Mittelpunkt stehen“

Änderungsbedarf ortet die Kinder- und Jugendanwältin im rechtlichen Bereich. „Ein Jugendamt handelt privatrechtlich und nicht hoheitsrechtlich. Deshalb gibt es keine Akteneinsicht und keine Rechtsmittel.“ Es bräuchte dringend Rechtsansprüche. „Das Kind muss im Mittelpunkt stehen.“ Für die betroffenen Erziehungsberechtigten verlangt Holz-Dahrenstaedt „volle Akteneinsicht. Damit könnte man der Ohnmacht, die viele Eltern empfinden, entgegenwirken.“

Die Kritik wird im „Schwarzbuch Jugendwohlfahrt“ im Zusammenhang mit Kindesabnahmen auch an Gutachtern geübt. Holz-Dahrenstaedt will „nicht alle Sachverständigen in einen Topf werfen“, sieht aber in vielen Fällen „Qualität und Quantität verbesserungswürdig“. Keine punktuellen Momentaufnahmen, sondern „lösungsorientierte Gutachten“ sollten der Regelfall sein.

„Es gibt also gewisse Kritikpunkte. Trotz des Engagements einzelner gibt es Handlungsbedarf.“ Ein Problem sei zum Beispiel der häufige Betreuerwechsel in Wohngemeinschaften. „Da arbeiten total bemühte, gut ausgebildete Menschen. Aber es gibt eine zu starke Personalfluktuation.“ Kinder könnten so kaum die für sie so notwendigen festen Bindungen zu ihren Betreuern eingehen.

Wiener Jugendamt weist Vorwürfe zurück

„Die Vorwürfe der beiden Autoren sind uns schon seit längerem bekannt“, sagt Herta Staffa, Sprecherin des Wiener Jugendamtes. Den Kritikpunkten von Missliwetz und Schlager will sie allerdings nicht recht Glauben schenken. „Natürlich hat das Jugendamt eine Machtfülle, weil wir die größte Kinderschutzeinrichtung des Landes sind.“ Es werde aber sehr behutsam mit den rechtlichen Möglichkeiten umgegangen. Dass Eltern vom Jugendamt zu einer „freiwilligen Vereinbarung“ überredet werden, weist Staffa zurück. „Es wird niemand dazu gezwungen.“ Und jeder könne sich nach Ausübung einer Zwangsmaßnahme durch das Jugendamt (etwa Kindesabnahme wegen Gefahr im Verzug) an ein Familiengericht wenden. „Das entscheidet binnen vier Wochen über den Fall.“ Zudem könne man sich an die Familienrechtshilfe wenden. Die Kritik der Buchautoren, dass der Rechtsbegriff „Kindeswohl“ zu schwammig formuliert sein, lässt Staffa nicht gelten. „Das ist alles im ABGB (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, Anm.) geregelt.“

Kindesabnahmen seien in manchen Fällen notwendig, würden aber nie leichtfertig durchgeführt, versichert Staffa. Man versuche, während der kurzfristigen Unterbringung von Kindern in Kriseneinrichtungen, mit den Eltern ein „Maßnahmenpaket zu schnüren und ein Netz zu knüpfen“, um die Kinder so rasch wie möglich wieder in die Familie „rückführen“ zu können.

Seit Jahren ist Österreich säumig, die 1989 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention durchgehend umzusetzen. Etliche Punkte wurden trotz eines Zeitrahmens von mittlerweile einem Vierteljahrhundert nicht verwirklicht. "Mit dem Beitritt zur bzw. mit der Ratifikation der UN-Kinderrechtskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, die in mehr als 50 Artikeln festgelegten Rechte der Kinder innerstaatlich durch entsprechende Gesetze und behördliche Maßnahmen zu verwirklichen", heißt es auf einer Internet-Info-Plattform des Ministeriums für Familie und Jugend.

Kürzlich wurde das 25-Jahr-Jubiläum der UN-Konvention gefeiert. Ministerin Sophie Karmasin ließ aufhorchen. "Wir in Österreich haben uns anlässlich des 25-Jahr-Jubiläums der Kinderrechtskonvention zu einem wichtigen Schritt und guten Signal entschlossen - ich konnte gestern in der UNO bekannt geben, dass Österreich alle Vorbehalte, die es gegen einzelne Teile der Kinderrechtskonvention hatte, zurücknimmt und alle Gebote voll in unser Recht umsetzt", sagte sie am 21. November.

Zwei Menschen, die sich vehement für die Umsetzung der Konvention einsetzen, sind Johann Missliwetz und Angelika Schlager. Am Montag veröffentlichten sie ihr neues "Schwarzbuch Jugendwohlfahrt", in dem sie mit der österreichischen Jugendamtspraxis hart ins Gericht gehen. Rund 50 Personen wohnten der Buchpräsentation im Wiener Presseclub Concordia bei. Dem KURIER gaben die beiden Autoren schon vorab ein Interview.

Der Gerichtsmediziner Johann Missliwetz und die promovierte Veterinärmedizinerin Angelika Schlager prangern mit ihrem heute erscheinenden "Schwarzbuch Jugendwohlfahrt" die Praxis der Kindesabnahmen in Österreich an. Anhand von 67 Fällen und nach jahrelangem Aktenstudium wollen sie die Mängel des Systems aufdecken. Manche Einblicke sind erschreckend, das Jugendamt als "Teufel" zu titulieren, wie im Buch zu lesen, scheint aber übertrieben.

KURIER: Sie selbst hatten mit dem Jugendamt zu tun. Die Obsorge Ihres Enkels wurde Ihnen entzogen.

Johann Missliwetz: Das war der Anlass des Buches. Aber als Gerichtsmediziner habe ich gelernt, persönliche Betroffenheit und Urteil voneinander zu trennen. Deshalb haben wir viele Fälle dokumentiert und festgestellt, dass erhebliche Missstände in Österreich herrschen.

Sie bezeichnen in Ihrem Buch die Jugendwohlfahrt als die Behörde mit der größten Machtfülle.

Missliwetz: Die Jugendwohlfahrt kann unter dem Titel "Gefahr im Verzug" ein Kind aus dem Familienverband herausnehmen, egal ob diese Gefahr existiert oder nicht. Umgekehrt können sie ein gefährdetes Kind im Familienverband belassen, wie es etwa im Fall Luca oder in anderen Fällen, wie sie im Buch beschrieben sind, passiert ist. Kontrollmöglichkeiten gibt es kaum.

Angelika Schlager: Ebenso wenig wie wirksame Beschwerdemöglichkeiten. Es ist nicht definiert, was Gefahr im Verzug ist. Deswegen kann das Amt das auslegen, wie es möchte. Das kann sein, dass ein Kind nach einem Spielplatzbesuch schmutzige Sachen anhat.

Missliwetz: Und ein Oberarmbruch kann keine Gefahr im Verzug sein. Wobei diese Verletzung von Sozialarbeitern beurteilt werden und nicht von Ärzten.

Kann das Jugendamt es überhaupt jemandem recht machen? Zögert es, heißt es, es habe nichts getan, nimmt es der Familie ein Kind ab, heißt es, es zerstöre eine Familie.

Missliwetz: Das ist ein Denkfehler. Jeder Einzelfall ist zu entscheiden. Wie in der Medizin: Erst die richtige Diagnose stellen und dann erst die richtige Behandlung suchen.

Schlager: Zwischen Abnehmen und Nichtstun gibt es ja eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die nicht oder wenig genutzt werden.

Missliwetz: Es werden Kinder abgenommen, weil sich die Eltern die Miete nicht leisten können und die Obdachlosigkeit droht. Sinnvoller wäre es, diesen Eltern befristeten Mietzuschuss zu geben.

Unterbringung in Wohngemeinschaften ist manchmal aus familiären Gründen notwendig.

Schlager: Es ist wichtig, dass es die Fremdunterbringung gibt, für Kinder, denen es in den Familien wirklich nicht gut geht. De facto ist es aber so, dass es vielen Kindern in den Wohngemeinschaften schlechter geht als zu Hause.

Oft stimmen Eltern mit freiwilliger Vereinbarung der vorläufigen Abnahme des Kindes zu.

Missliwetz: Eltern werden mehr oder weniger dazu genötigt, indem ihnen gesagt wird, dass sie ihr Kind rascher wieder sehen, wenn sie einer freiwilligen Vereinbarung zustimmen. Sie werden nicht darüber informiert, dass ihnen die Freiwilligkeit den Rechtsweg absperrt. Wenn etwas freiwillig ist, braucht man es nicht gerichtlich überprüfen. Das sieht man, wenn man eine freiwillige Vereinbarung widerruft. Dann wird vom Jugendamt Gefahr im Verzug angeführt und das Kind bleibt in Fremdunterbringung. Aus der Familie heraus in ein betreutes Wohnen hinein kommt man binnen Stunden. Der Weg zurück in die Familie dauert Monate bis Jahre.

Sie kritisieren auch die Familiengerichte.

Schlager: Wir kritisieren, dass Familiengerichte die Jugendwohlfahrt als Entscheidungsgrundlage heranziehen. Sie wären aber dazu verpflichtet, diese Entscheidungen objektiv zu überprüfen.

Missliwetz: Doch die Argumente der Jugendwohlfahrt werden unkritisch übernommen, weil diese Behörde ja dem Kindeswohl verpflichtet ist. Das ist eine Annahme.

Die Sachverständigen ...

Missliwetz: Manche Gutachter machen überhaupt keine Testverfahren, manche machen zehn psychologische Testverfahren. Der Beliebigkeit bei familienpsychologischen Gutachten ist Tür und Tor geöffnet.

Eltern können doch unabhängige Gutachten einbringen.

Missliwetz: Ob ein Gutachter hinzugezogen wird, entscheidet ausschließlich der Richter. Das ist in etwa einem Drittel der Fälle der Fall. Zwei Drittel werden ohne Gutachten abgehandelt. Wenn ein Elternteil mit dem Gutachten nicht einverstanden ist, könnte man ein Privatgutachten vorlegen. Dem Privatgutachten wird jedoch vom Gericht nicht gefolgt, weil es ein Aktengutachten ist, und – so die übliche Begründung – nur die Meinung des Verfassers widerspiegelt.

Ein Schlüsselbegriff ist das "Kindeswohl".

Missliwetz: Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Deutungshoheit liegt bei der Jugendwohlfahrt und bei den Familiengerichten. Ein Beispiel ist der Kindeswille. In manchen Fällen ist der Wunsch des Kindes, zu einer Person in Obhut zu kommen, relevant und wichtig. Dem wird gefolgt. In anderen Fällen ist der Kinderwillen unerheblich und schwankend und für beides gibt es Textbausteine in den Gerichtsbeschlüssen.

Hat sich denn in den letzten Jahren gar nichts zum Besseren gewendet?

Schlager: Es scheint so, als wäre dieses System seit 100 Jahren existent und so eingefahren und geübt im Ausdruck, dass man sich in Österreich überhaupt nicht dagegen wehren kann.

Missliwetz: In manchen Wohngemeinschaften geht es so zu, wie früher in den Großkinderheimen.

Schlager: Die Einheiten sind kleiner, aber immer noch abgeschlossen. Die Kinder sind leichter zu kontrollieren.

Missliwetz: Telefongespräche mit den Eltern erfolgen unter Aufsicht. Die Handys werden abgenommen.

Schlager: Eltern, die sich dagegen zur Wehr setzen, werden mit Kontaktverbot bestraft.

Was bräuchte es, um das System zu verbessern?

Missliwetz: Dem Seelenmord an Kindern muss ein Ende bereitet werden: Eine Totalreform der Jugendwohlfahrt mit Beschränkung auf Hilfeleistung. Kindesabnahme durch Experten, nicht durch das Jugendamt. Innerstaatliche, wirksame Beschwerdemöglichkeiten.

Schlager: Durchsetzbarkeit von Kontaktrechten.

Das "Schwarzbuch Jugendwohlfahrt" ist eine Abrechnung zweier Wissenschaftler, die selbst von Obsorge-Entzug betroffen sind. Die beiden sind Lebensgefährten und hatten ihren Enkel zwei Jahre lang aufgezogen. Die Kindsmutter habe danach, im Jahr 2010, das Sorgerecht bekommen, obwohl sie "dem Kind ablehnend gegenübergestanden" sei.

Nach dem "Schwarzbuch Familienrecht" ist es das zweite gemeinsame Buch der beiden. Es ist im Eigenverlag erschienen und kann, wie auch das Erstlingswerk, im Internet via Amazon bestellt werden. "Schwarzbuch Jugendwohlfahrt", 369 Seiten, ISBN 9781502431936, 16,04 €.

Die Autoren

Johann Missliwetz, 64, studierte Medizin und war von 1975 bis heuer im Departement für gerichtliche Medizin der MedUni Wien beschäftigt. Er lehrt als Professor für gerichtliche Medizin und ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher aber auch belletristischer Werke.

Angelika Schlager, 48, promovierte auf der Veterinärmedizinischen Universität in Wien. Heute arbeitet sie mit Missliwetz im medizinischen Bereich. Gemeinsam mit Kerstin Freudenberg hat sie die "Bürgerinitiative Kinderrechte" gegründet.

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