Brauch: Warum küssen wir uns eigentlich unter dem Mistelzweig?

Ein Paar steht lachend in einer Küche, während eine Person Mistelzweige über die andere hält.
Ein Kuss unter dem Mistelzweig gilt als Glücksbringer. Für die von der Mistel befallenen Bäume ist das Schmarotzergewächs weniger segensreich. Eine neue Studie könnte zu einer Imagekorrektur der Pflanze beitragen.

Ein Bündel filigraner Stiele mit zarten Blättern, dazwischen kleine, perlenartige, weiße Beeren: Die immergrüne Mistel entzückt an trüben Wintertagen durch ihre frische Optik. 

Ihr charmanter Charakter wird durch eine Tradition verstärkt, die eng mit der an sich leicht giftigen Pflanze verbunden ist: In vielen westlichen Kulturen gilt es als Brauch, sich unter einem Mistelzweig zu küssen.

Unter dem Mistelzweig: Warum ist der Kuss ein Muss?

In so mancher Romantikkomödie war der Anblick eines Mistelzweiges schon Ausgangspunkt einer großen Liebesgeschichte. Auch in der Popmusik wird der Kuss unter dem Mistelzweig immer wieder beschworen. Was viele nicht wissen: Die Geste hat eine tief verwurzelte kulturelle Bedeutung.

Ursprünglich stammt der Brauch aus Englandwo die Beeren im 18. Jahrhundert angeblich als "Kuss-Kugeln" bezeichnet wurden. Der Überlieferung nach dürfen sich Menschen, die sich unter dem Zweig begegnen, küssen. Für jeden Kuss muss der Mann eine der Beeren vom Zweig pflücken. Sind alle Beeren gepflückt, wird das Paar mit immerwährender Liebe belohnt.

Schmarotzende, immergrüne Büschel

Unter Botanikern genießt die Mistel einen weniger romantischen Ruf: Sie gehört zu den sogenannten Halbschmarotzern. Sie betreibt zur Energiegewinnung zwar selbst Photosynthese, zapft ihren Wirtsbaum aber für Wasser und Nährstoffe an. Dafür lassen Mistelzweige ihre Senkwurzeln über Jahre hinweg vom Gewebe des Wirtes umwuchern.

Langfristig, heißt es, kann ein Mistelbefall einen Baum schwächen und anfälliger für Krankheiten, Trockenheit oder andere Stressfaktoren machen. 

Dem widerspricht eine neue US-Studie: Demnach verursachen Misteln keine wesentlichen Schäden an ihren Wirtsbäumen. Forscher begutachteten im Bundesstaat Oregon die Kronen von Bäumen in städtischen Gebieten und stellten fest, dass selbst stark befallene Bäume überwiegend in gutem Zustand waren. Ein gesunder Baum könne wohl gut mit den Mistelbüschen leben, folgern die Studienautoren.

Die Misteln befielen zudem fast nie ganz junge Bäume, die Nährstoffe für ihr Wachstum noch dringender benötigen. Das Forschungsteam vermutet, dass Misteln der städtischen Natur insgesamt eher zuträglich sind – insbesondere, weil ihre klebrigen Beeren im Herbst und Winter eine wichtige Nahrungsquelle für zahlreiche Vogelarten darstellen.

Tatsächlich gelangen die klebrigen Samen des Mistelbusches über Vogelkot in die Rinde des Wirtsbaums. Dort keimen sie langsam: Erst im zweiten Jahr zeigt sich ein zarter Trieb, und es dauert rund fünf Jahre, bis die ersten Beeren reifen.

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Die Mistel gilt als Weihnachtspflanze. Entdecken kann man die Büschel aber das ganze Jahr.

Mystische Pflanze

Die Mistel ist seit jeher von mystischer Symbolik umgeben. Lange rätselte der Mensch, wie die Pflanzen ohne klassische Wurzeln hoch oben in den Bäumen gedeihen können. Die Gewächse wurden als Geschenke der Götter interpretiert. Man schrieb ihnen Zauber-, Schutz- und Heilkräfte zu.

Die Christen übernahmen die Verbindung der Mistel zum Weihnachtsfest aus den Bräuchen der Germanen und Kelten zur Wintersonnenwende im Dezember. Nach dem 21. Dezember, wenn die Sonne ihren Tiefpunkt überschritten hat, wurden die Räume und Türrahmen traditionell als Symbol der Wiedergeburt der Sonne mit Mistelzweigen geschmückt. Wer sich unter dem Zweiglein küsst, wird mit Glück und Fruchtbarkeit beschenkt.

In der nordischen Mythologie rankt sich eine Sage um die Mistel: Ein aus einem Mistelzweig geschnitzter Pfeil soll den Sohn der Göttin Frigga getötet haben. Ihre Tränen verwandelten sich in die weißen Beeren der Mistel. Als ihr Sohn wieder zum Leben erwachte, küsste Frigga vor Freude jeden, den sie unter dem Baum traf, an dem die Mistel wuchs.

Manchen wird die Mistel aus den Abenteuern von Asterix und Obelix bekannt sein: Der Geschichte nach braute der Druide Miraculix sein zauberkraftverleihendes Gebräu aus Mistelzweigen.

Umstrittene Therapien 

Die vermeintlichen Heilkräfte der Mistel bilden auch die Grundlage für moderne komplementärmedizinische Anwendungen. Besonders bekannt ist die sogenannte Misteltherapie, die häufig von Krebspatientinnen und -patienten nachgefragt wird.

Bei der Misteltherapie werden homöopathische oder pflanzliche Präparate aus der Mistel meist unter die Haut gespritzt, um Nebenwirkungen von Chemo- oder Strahlentherapien zu lindern und das Immunsystem gegen Krebszellen zu stärken. Die Wirksamkeit dieser Methode ist wissenschaftlich stark umstritten. Laut der US-amerikanischen Krebsgesellschaft gibt es keine Belege dafür, dass eine Misteltherapie die Heilungschancen verbessert.

Auf der Suche nach Mistelzweigen wird man in den Wochen und Tagen vor Weihnachten in so ziemlich jedem Blumengeschäft oder auch auf Märkten fündig. Für den Eigengebrauch darf man die Büschel auch bei Spaziergängen selbstständig ernten – vorausgesetzt, man beschädigt den Wirtsbaum dabei nicht.

Als Weihnachtsschmuck haben die verzierten Zweige harmlose dekorative Effekte. Damit sie im Dezember frisch bleiben, sollten sie kühl gelagert werden, etwa auf der Terrasse. Ein gelegentliches Besprühen mit Wasser hält sie zwei bis drei Wochen lang frisch – ausreichend Zeit für viele Küsse.

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