Vagabundus liebt die Menschen, den Fischmarkt, das Lachen – als Lachmöwe und Protagonist eines Kinderbilderbuches nicht allzu überraschend. Ungewöhnlich jedoch, dass die Stadt irgendwann grau und verlassen ist – und sich Vagabundus schrecklich alleine fühlt.
Obwohl das Buch ab fünf Jahren ist, geht es tiefer. Denn Jörg Bernardy hat "Die Möwe Vagabundus" (Tulipan/Penguin) als philosophisches Kinderbuch angelegt.
KURIER: Beim Wort "Philosoph" denken immer noch viele an ältere Herren mit Bart und Pfeife. Wie haben Sie den Weg zur Philosophie mit Kindern und Jugendlichen gefunden?
Jörg Bernardy: Das kam in gewisser Weise als Geschenk – in Form einer Gelegenheit. Vor zehn Jahren hat mich eine Lektorin angesprochen, ob ich nicht ein Buch für Jugendliche schreiben möchte. Daraus entstand eine Zusammenarbeit mit Kindern. Heute ist dieser Bereich für mich eine sehr sinnbildende Quelle geworden.
Was verändert sich, wenn Sie mit Kindern philosophieren?
Ich habe gelernt, dass ich alle Erwartungen, in welche Richtung sich das Gespräch entwickeln könnte, ablegen muss. Ich schaue viel mehr darauf, was sich im Moment ergibt.
Welche ungewöhnlichen Erkenntnisse haben sich dabei schon ergeben?
Oh, ganz viele. Einmal haben wir zum Beispiel die berühmte Frage diskutiert: Was war zuerst da, Henne oder Ei? Natürlich kann man das naturwissenschaftlich besprechen und überlegen, dass es ja ein Tier gegeben haben muss, das das erste Ei gelegt hat. Dann sind wir darauf gekommen, dass jedes Tier einen Vorfahren hat. Und irgendwann meinte ein Kind: „Fische waren schon vorher da, und die haben schon Eier gelegt.“
Sie haben als Kind viele fantastische Bücher gelesen: Momo, Ronja Räubertochter, Pippi Langstrumpf – drei starke Mädchenfiguren. Geben diese vermeintlichen Mädchengeschichten mehr Raum für philosophische Themen?
Ja, vielleicht. Und auch mehr Platz für Reflexionen. Momo ist ein gutes Beispiel. Da werden großen Fragen diskutiert; die Reise zum Ursprung der Zeit, die eigentlich eine Reise zum eigenen Herzen ist. Da ist viel emotionale Reflexion. Bei Kindern und Jugendlichen existiert die Trennung zwischen Rationalität und Emotionalität weniger stark. An der Uni in einem Kolloquium, da lacht man vielleicht auch einmal, aber wenn ich mit Kindern philosophiere, lachen wir mindestens drei oder vier Mal richtig herzlich.
Jörg Bernardy hat ein philosophisches Bilderbuch für Kinder geschrieben.
Das Bilderbuch ab fünf Jahren erzählt die Geschichte der Möwe Vagabundus, die auf einmal mit verwaisten Innenstädten konfrontiert ist. Illustriert von Daria Kuvakina. Erschienen im Tulipan Verlag, Teil der Penguin Random House Verlagsgruppe. 17 Euro.
Sie behandeln mit Kindern nicht nur leichte Themen. In „Die Möwe Vagabundus“ geht es um Alleinsein, um Isolation. Warum ist es wichtig, auch schwere Themen zu besprechen?
Vor ein paar Wochen habe ich in Göttingen mit Kindern über Angst gesprochen. Ein Junge, der Sohn eines Physikprofessors, erklärte das naturwissenschaftlich, mit Hormonen und Neuronen. Dann meinte ein anderer „Die Angst, die war schon immer da, und zwar bevor die Menschen da waren.“ Da war es erst einmal still, ich habe auch nichts gesagt. In dem Moment ist etwas passiert: ein Riesengedanken, der alle erschreckt. Trotzdem konnte man weitermachen. Bei Erwachsenen ist das oft schwieriger. Wenn unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen, ist das Gespräch oft schwer zu lenken.
Vielleicht, weil wir ein größeres Bedürfnis nach Abgrenzung und Kontrolle haben. Im Laufe des Lebens werden unsere Grenzen klarer und vielleicht auch etwas enger.
Sollten wir da nicht ein wenig von Kindern lernen?
Grenzen zu setzen hat natürlich seinen Sinn: Man grübelt nicht ewig, zerdenkt nicht alles. Als Erwachsener tragen wir auch mehr Verantwortung. Aber ja, ich glaube, wir nehmen uns zu wenig Zeit. Für uns selbst, für das absichtslose Spiel, das zweckfreie Denken. Ein französischer Künstler hat mal gesagt: „Wenn wir aufgehört haben, Kind zu sein, dann sind wir schon tot.“ Und es stimmt: In dem Moment, in dem wir Kinder und ihre Gedanken ernst nehmen, mit ihnen lachen, haben wir ja nicht nur Empathie hergestellt – wir haben auch das Kindliche in uns wieder entdeckt.
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