36 Stunden, nachdem Reaktor-Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl explodiert war, erreichten 1.200 Busse die Stadt Prypjat. Sie kamen, um die Menschen der Arbeiterstadt zu evakuieren. Nach drei Tagen würden sie wieder in ihre Wohnungen zurückkehren können, sagte man ihnen. Tatsächlich kamen sie nie wieder.
Zurück blieben ihre Habseligkeiten. Und ihre Haustiere. Die meisten davon überlebten nicht. Doch ein paar entwickelten die erstaunliche Fähigkeit, in dieser radioaktiven Umgebung gut zurechtzukommen.
Seither ist die Forschung von den Hunden in Tschernobyl fasziniert. So fand der US-amerikanische Biologe Timothy Mousseau heraus, dass sich die Hunde genetisch stark von anderen Hunden auf der Welt unterscheiden. Er untersuchte mehrere Rudel und entdeckte: Je näher sie an den Reaktor-Ruinen leben, desto größer sind die genetischen Veränderungen.
Die Gründe dafür schienen offensichtlich. Die radioaktive Strahlung habe zu Mutationen geführt.
Suche nach den Ursachen
Eine neue Studie, die vor Kurzem in der Fachzeitschrift Plos One veröffentlicht worden ist und an der ebenfalls der Biologe Mousseau beteiligt war, kommt aber zu einem anderen Schluss: Die Forscher fanden keine Beweise für eine solche erhöhte Mutationsrate bei den Hunden. Radioaktive Strahlung kann also nicht die Ursache für die Unterschiede im Genom der Tiere rund um das Atomkraftwerk sein.
Was aber ist dann der Grund? Darüber rätseln die Wissenschafter noch. Aber es gibt Hinweise, dass es sich um gerichtete Selektion handeln könnte. „Die Hunde von Tschernobyl leben seit vielen Generationen isoliert. Das hat vielleicht zu einer Selektion geführt, damit sie mit den Bedingungen besser zurechtkommen“, sagt Timothy Mousseau zum KURIER.
In diesem Fall wäre die genetische Entwicklung schnell gegangen, also innerhalb weniger Generationen. „Damit die Selektion eine Population so schnell so stark verändern kann, muss der Druck sehr hoch sein“, sagt Genetikerin und Co-Autorin Megan Dillon von der North Carolina State University. Also hätten sich die Hunde nicht so rasch angepasst, wäre ein Überleben der Population nicht möglich gewesen. Mittlerweile gibt es rund 800 Individuen im Sperrgebiet.
Ein weiterer Aspekt, der in die genetischen Veränderungen hineinspielen könnte, ist Inzucht. „Der Grad an Inzucht ist hier höher als üblich“, sagt Timothy Mousseau.
Der Kuckuck ruft anders
Der Biologe von der University of South Carolina beschäftigt sich aber nicht nur mit den Hunden von Tschernobyl. Bei seinen zahlreichen Forschungsaufenthalten in der Gegend entdeckte er auch Auffälligkeiten bei anderen Tierarten.
So hat der Kuckuck seinen charakteristischen Ruf verändert – von „Ku-kuck-ku-kuck-ku-kuck“ zu „Ku-kuck-ku-kuck-ku-kaaaah“. Untersuchungen ergaben, dass der Ruf des Vogel so etwas wie ein Indikator für die Qualität der Umweltbedingungen ist. Je verfälschter er ist, desto schlechter sind sie.
Ein anderes Beispiel sind die Laubfrösche. Jene in der Sperrzone haben – anstatt der grünen – eine tiefschwarze Hautfarbe. Diese schützt die Zellen besser vor Strahlungsschäden.
Und Spinnen, die eigentlich Meister in geometrischen Formen sind, weben in Tschernobyl asymmetrische Netze. All das sind die Folgen von genetischen Schäden oder von Selektion.
Was konkret die Ursache für die genetisch einzigartigen Hunde ist, finden die Forscherinnen und Forscher derzeit bei neuen Studien heraus. Und erhoffen sich dadurch auch Erkenntnisse über die Anpassung an radioaktive Strahlung beim Menschen. Denn: „Hunde sind dem Menschen sehr ähnlich. Sie erkranken sogar an den gleichen Krebsarten“, sagt Biologe Timothy Mousseau.
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