Wie einigen wir uns trotz unterschiedlicher Auffassung von Erziehung?

Vater, Kind und Mutter schauen schlecht gelaunt über eine weiße Fläche.
Wie löst man das Problem, wenn man sich in Fragen der Kindererziehung nicht einig ist? Psychotherapeut Christian Beer gibt Rat.

Leserin Brigitte (50) fragt:

Mein Mann und ich geraten immer häufiger aneinander, wenn es um die Erziehung unserer Kinder und den Umgang mit der Schule geht. Ich bin eher locker und finde, Kinder brauchen auch mal eine Auszeit. Ich lasse sie auch mal zu Hause, wenn sie überfordert sind oder auch mal nicht vorbereitet. Für mich ist das Fürsorge. Mein Mann hingegen sieht Schule als Pflicht und mich für zu inkonsequent. Er befürchtet, dass wir unseren Kindern damit falsche Signale senden. Das hat zwar seine Berechtigung, führt aber immer wieder zu Streit. Manchmal habe ich das Gefühl, wir stehen uns als Eltern gegenseitig im Weg. Ich will das Beste für uns alle.

Antwort:

Ihre Beobachtung, dass man sich als Eltern manchmal im Weg steht, ist weit verbreitet und spiegelt eine grundlegende Dynamik in der Kindererziehung wider. Es ist wichtig, dass Eltern ein gemeinsames Wertefundament haben, aber sie dürfen durchaus für unterschiedliche „Werte-Kategorien“ stehen. Traditionell steht die Mutter oft für das Fürsorgliche und die emotionale Regulation. Sie reguliert von klein auf mit körperlicher Zuneigung und Geborgenheit. Der Vater hingegen neigt dazu, Kinder in aufregende Situationen zu locken, sie herauszufordern (wie bspw. beim weitverbreiteten Hochwerfen- und Auffangspiel) und spielt quasi die „Trennung“ mit dem Kind – er reguliert auf Distanz und Unabhängigkeit. Im Späteren erfordert Leistung einerseits Ausdauer und andererseits das Spüren, aber auch gleichzeitige Distanz zu den eigenen Gefühlen und, auch ohne ständige positive emotionale Unterstützung, diszipliniert an Dingen dranzubleiben. Etwa der Vater, der am Fußballfeld Anweisungen brüllt, während die Mutter mit glasigen Augen den Sohn bewundert. Der Vater übt Manöverkritik, die Mutter bremst ein und verspricht dem Kind sein Lieblingsessen daheim.

Gerade diese Mischung ist es, die Kinder brauchen: Es ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Was Sie und Ihr Mann tun, ist also prinzipiell richtig. Der Schlüssel liegt in einer guten Verständigung und Koordination zwischen Ihnen und Ihrem Mann.

So finden Sie die Balance

Klare Lernzeiten mit Flexibilität, die sich an der Verfassung des Kindes orientieren. Hier kann die Mutter gut einschätzen. Der Vater bringt Struktur ein und stärkt so den Glauben an die Leistungsfähigkeit, sollte dabei aber ruhig bleiben und eigene Erwartungen nicht projizieren.

Wichtig sind zudem gesunde Idealisierung und emotionale Regulation: Der Vater erkennt das Potenzial des Kindes, die Mutter weiß, was es zur Erholung braucht. Beide Perspektiven sind entscheidend.

Ein Kind sollte jedoch generell nicht willkürlich bestraft werden. Disziplinarmaßnahmen sollten aus den richtigen Gründen, maßvoll und zielgerichtet eingesetzt werden, nicht als Ausdruck eines impulsiven oder reaktiven Verhaltens. Für Kinder ist es jedoch wichtig, zu lernen, dass das Überschreiten von Grenzen Konsequenzen hat.

Reue: unterschätzt aber wichtig

Wenn ein Kind in der Schule eine Schularbeit „verhaut“, kann Reue ein angemessenes Gefühl sein. Dabei kommen oft auch Schuld und Scham auf – wichtig ist, dass diese im „Fahrtwind“ der Reue bleiben. Pathologisch wird es, wenn Scham und Schuld ohne Reue auftreten, wie bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Reue entsteht, wenn Kinder ab etwa fünf Jahren anfangen, Werte zu verstehen, und wird zwischen acht und zehn Jahren psychisch gesund erlebt. Eltern können unterstützen, indem sie sagen: „Ich weiß, es fühlt sich nicht gut an, aber es ist gut, dass du es bereust.“ Ab zwölf Jahren lernen Kinder, Reue vorauszudenken – und so ihr Verhalten nach Werten zu richten. Das stärkt ihr Selbstvertrauen und Selbstwert.

Belastung und Erholung als Einheit

Ihr Kind muss hoffentlich nicht „geschützt“ werden – Belastung und Erholung sind wie beim Training untrennbar. Die Mutter sorgt für Erholung, der Vater für den Lernreiz. Diese Balance stärkt die Elternrollen und die Werte, die sie leben. Wichtig ist, dass beide Eltern diese Werte auch im Alltag vorleben – sei es Leistung, Tagesstruktur oder Selbstfürsorge. In modernen Familien können die Rollen auch flexibel geteilt werden.

Kommentare