Hype um den Vagusnerv: Was er kann – und was nicht

Hype um den Vagusnerv: Was er kann – und was nicht
Der „Wandernerv" mache gesund und gelassen, heißt es. Zwei Mediziner sagen, was es bringt, den Vagusnerv zu stimulieren.

"Wie neu" fühlt sich Silvia B., 62 (Name der Red. bekannt). Vor acht Jahren entwickelte sie nach privaten Schicksalsschlägen sowie beruflichen Turbulenzen eine schwere Depression und verbrachte Wochen in einer psychiatrischen Klinik. Trotz vieler Medikamente und Therapien blieb ihr Zustand unverändert: „Nichts hat mich gefreut, es war schlimm“, erzählt sie. Eine glückliche Fügung führte sie an die Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Wiener AKH, wo sie an einer Studie zur Stimulation des Vagusnervs teilnahm. Auf Höhe des Herzens wurde ihr ein schrittmacherähnliches Gerät chirurgisch implantiert, das Impulse an den Vagusnerv sendet. Frau B. wird es ein Leben lang tragen. Ergänzt wird das Verfahren durch Medikamente. Erste Effekte zeigten sich nach einem halben Jahr: „Ich fühlte mich zunehmend besser, mittlerweile habe ich mein altes Leben wieder“, sagt sie.

Der 10. Hirnnerv des Menschen erlebt derzeit einen Hype – als „Selbstheilungsnerv“ und „Wunder“. Was ist davon zu halten? Unter den zwölf Hirnnerven ist er einzigartig: „Der Vagusnerv spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation zwischen dem Gehirn und verschiedenen Organen im Körper. Als Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems liefert er Informationen über den Zustand des Körpers. Nicht nur der Organe, sondern auch des Immunsystems“, sagt Ap. Prof. Christoph Kraus von der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, MedUni Wien. Außerdem ist er für „Rest-and-Digest“-Reaktionen verantwortlich. So hilft er etwa, zu entspannen, die Herzfrequenz zu senken, die Verdauung zu fördern oder etwaige Entzündungen zu regulieren. Das alles macht ihn derzeit zum begehrten und angesagten „Alleskönner“. 28-Tage-Reset-Vagusnerv-Programme, spezielle Apps oder teure Mini-Gerätelocken in den sozialen Medien mit allerlei Frohbotschaften: besserer Schlaf, mehr Ruhe, Entspannung, gute Laune. Das Rundum-Sorglos-Paket. Marketingversprechen, die Kraus kritisch kommentiert: „Vieles davon ist unseriös, weil wissenschaftlich nicht erprobt.“

Im Fokus der Forscher

Die gute Nachricht: Weltweit wird in Studien erforscht, wie mit Hilfe des Vagusnervs Krankheiten wie Epilepsie oder chronische Schmerzen behandelt werden können – oder eben therapieresistente Depressionen wie bei Silvia B., die von Christoph Kraus betreut wird. „Wir verwenden die Vagusnerv-Stimulation (kurz: VNS) für Menschen mit schweren Depressionen, denen sonst nichts hilft“, sagt er. Menschen, die sagen: „Ich kann nicht mehr.“ In solchen Fällen sei so eine invasive Therapie gerechtfertigt, zumal sich gute klinische Effekte zeigen. „Um ein Allheilmittel handelt es sich aber nicht, sondern um einen Teil eines Gesamtkonzepts mit weiteren Strategien“, so Kraus. Auch Geräte, die nicht implantiert werden müssen, werden aktuell in wissenschaftlichen Studien untersucht. So zielt etwa die aurikuläre (auch: transkutane) VNS auf jenen Ast des Nervs ab, der durch das Ohr läuft. Stimuliert wird er mittels Elektrode über dem Eingang zum Gehörgang. „Diese Form von Stimulation zeigt ebenfalls moderate Effekte – ähnlich wie Medikamente – und wird bei Schmerzen, Fibromyalgie, Migräne, Rheuma, entzündlichen Darmerkrankungen oder Long Covid erprobt“, so Kraus.

Was entspannt, hilft dem Vagus

Dass der Vagusnerv in den Fokus der Forschung rückt und an Aufmerksamkeit gewinnt, freut auch die Psychologen und Traumatologen. Wie DDr. Sabrina Leal Garcia von der Klinischen Abteilung für medizinische Psychologie, Psychosomatik und Psychotherapie der MedUni Graz: „Es ist gut, dass der Vagus immer bekannter wird, weil man diesen Nerv auf unterschiedliche Art beeinflussen kann, was auch das Ziel vieler Therapieverfahren ist, die wir in der Psychosomatik einsetzen“, sagt sie. Alle Entspannungsverfahren zielen auf seine Funktion ab (siehe weiter unten). 

„Wenn der Nerv gut funktioniert, kommt der Körper in einen Ruhezustand. Es werden außerdem Entzündungszustände hinuntergeregelt, indem er bestimmte Prozesse im Organismus registriert, einen antientzündlichen Reflex auslöst und Stoffe freisetzt, die dem entgegenwirken.“ Dabei spielt ein Neurotransmitter namens „Acetylcholin“ eine zentrale Rolle, der 1921 von dem deutschen Pharmakologen Otto Loewi an der damaligen Karl Franzens Universität in Graz entdeckt wurde. Er konnte beweisen, dass die Stimulation des Nervus vagus eine Substanz freisetzt, die eine Senkung der Herzfrequenz bewirkt, er nannte sie damals „Vagusstoff“. Für die Entdeckung erhielt Loewi 1936, gemeinsam mit dem britischen Forscher Henry Dale, den Nobelpreis für Medizin.

Vom „Vagus-Wunder“ mag aber auch Leal-Garcia nicht sprechen: „Das wäre unseriös. Er kann keine Erkrankung gezielt heilen, aber er hat Potenzial, auch im Sinne von Selfcare.“ Daher sei er ein wichtiger Teil der multimodalen Therapie: „Denn alles, was den Vagusnerv unterstützt, fördert den gesunden Anteil in uns.“

Vagus-Training: Was der  „Wandernerv“ kann - und mag

Der Vagus...

  • übermittelt Signale an das Gehirn, die emotionale Zustände beeinflussen können.
  • stimuliert die Aktivität des Verdauungssystems, so wird etwa der Speichelfluss angeregt.
  • kann Stresshormone reduzieren, was zu besserem Schlaf führt.
  • kann die Herzfrequenz verlangsamen und die Senkung des Blutdrucks fördern.
  • unterstützt das Immunsystem, unter anderem durch den "antientzündlichen" Reflex
  • bewirkt, dass der Körper in einen Zustand des Gleichgewichts und Erholung übergeht - und sich entspannen kann.
  • spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation von Schmerz.

Das unterstützt den Vagus: 

Atemübungen, Meditation, Yoga und Ernährung: Sanftes macht sanft – und den 10. Hirnnerv „glücklich“.Wenn der Nervus vagus gut funktioniert, kann der Körper in den „Rest & Digest“-Modus gehen. Heißt: Als  bedeutendster Nerv des Parasympathikus (beruhigend) führt seine Aktivierung dazu,  dass der Körper in einen Zustand des Gleichgewichts und der Erholung übergeht. Dabei arbeitet er  als Gegenspieler zum Sympathikus (aktivierend), der in Stresssituationen die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion“ anregt und als „Alarmanlage“ fungiert. Der Vagus mag es  vor allem entspannt und schätzt einen „Wohlfühl-Modus“.

Die wichtigsten Maßnahmen auf einen Blick: 

Atemübungen: Langsame, bewusste Atmung in den Bauch mit Betonung der Ausatmung aktiviert den Vagusnerv. Etwa:  Vier  Sekunden einatmen, Atem eine Sek. anhalten, sechs bis acht Sek. ausatmen. 

Meditation & Yoga: Regelmäßiges Meditieren stimuliert den Vagus.   Yogastile mit Fokus   auf Atemtechniken  wirken  ebenfalls.

Sanfte Bewegung:    Regelmäßiges, nicht zu intensives Gehen, Schwimmen, Joggen fördern die Funktion des Vagusnervs ebenso wie sanfte Dehnübungen. 

Positive und schöne Momente:    Lachen, soziale Interaktionen, mit anderen in Verbindung gehen,   Zärtlichkeit,   Umarmungen: Das tut dem Vagus gut.

Gesang und Vibration:    Summen, Singen, Tönen  aktivieren ebenfalls die vagale Aktivität. 

Ernährung: Der Nervus vagus arbeitet mit dem Darm-Mikrobiom eng zusammen, dabei übermittelt er sensorische Informationen aus dem Darm ans Gehirn. Diese Kommunikation geht in beide Richtungen, Stichwort: Darm-Hirnachse. Folglich kann Ernährung die Funktion des Vagusnervs begünstigen, indem ein gesundes Darm-Mikrobiom gefördert und der Nerv auf diese Weise indirekt beeinflusst wird.   Eine aktuelle Studie der MedUni Graz konnte etwa zeigen, dass die Einnahme von Probiotika die Vagusnervfunktion von Menschen mit Depression verbessert. Weiters hilfreich: fermentierte Lebensmittel, wie etwa Miso, Shoyu,  Kimchi oder Sauerkraut, aber auch Kefir und Joghurt. 

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