Dietmar Pennig: Seitdem die Krim im Jahr 2014 von Russland annektiert worden ist, behandeln wir immer wieder Verletzte aus der Ukraine vorwiegend in deutschen Militärkrankenhäusern. In den letzten drei Jahren hat der Strom an Kriegsverletzten aus der Ukraine deutlich zugenommen. Deutschland hat in dieser Zeit rund 1.300 Verletzte aufgenommen – das ist mehr als die Hälfte aller im EU-Bereich Aufgenommenen. In den letzten Jahren hat sich auch das Bewusstsein deutlich geschärft, was passiert, wenn sich dieser Konflikt auf das Territorium Deutschlands ausbreitet – es wäre fahrlässig, das zu ignorieren. Wir müssen uns darauf einstellen, denn normalerweise kommt es hierzulande eher zu stumpfen Verletzungen, beispielsweise durch Auto- oder Freizeitunfälle. Ich habe dieses Thema bewusst ausgewählt, denn wir müssen eine sichere Chirurgie bereitstellen für derartige Verletzungen. Eine NATO-Simulation geht davon aus, dass bei einer kriegerischen Vereinbarung mit Truppen auf deutschem Staatsgebiet mit rund 1.000 Verletzten pro Tag zu rechnen ist, 250 davon Schwerstverletzte. Derzeit haben wir 85 Schwerstverletzte pro Tag aus anderen Bereichen wie Auto- oder Arbeitsunfälle – 250 wäre also eine Verdreifachung.
Wie gelingt die Versorgung einer so großen Zahl an Verletzten?
Sie müssen auf unterschiedliche Kliniken entsprechend verteilt werden. Dafür gibt es bereits das "TraumaNetzwerk" als zertifizierte Vernetzung geprüfter Krankenhäuser einer Region. Insgesamt sind im TraumaNetzwerk rund 650 Krankenhäuser, auch grenzübergreifend welche aus z. B. Österreich und der Schweiz, enthalten. Über das Netzwerk werden bei einem Großschadensfall, etwa einem Eisenbahnunglück, die vielen Verletzten aufgeteilt. Das sind lokale, regionale und überregionale Traumazentren, die sich untereinander absprechen. In den vergangenen Jahren haben wir leidvolle Erfahrungen sammeln müssen, etwa beim Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt im Dezember 2024 mit knapp 300 Verletzten oder im Februar in München (ein Mann steuerte ein Auto in einen Demonstrationszug, Anm.) mit 39 teils Schwerverletzten. Kommt es zu einer kriegerischen Auseinandersetzung, hätten wir deutlich höhere Zahlen und das über viele Tage hinweg. Dafür müssen wir unsere Strukturen nachschärfen.
Welche Probleme könnten auftreten, die derzeit noch nicht ausreichend gelöst sind?
Man hat zum Beispiel nach dem Anschlag in Magdeburg gemerkt, dass die Uniklinik Magdeburg nach der Versorgung der Verletzten keine speziellen Materialien mehr hatte, dazu zählen etwa Verbrauchsmaterialien und Instrumente, die derzeit für große Katastrophen nicht ausreichend eingelagert sind. Für den Kriegsfall muss ein Vorrat eingelagert sein, mit entsprechend langer Sterilitätszeit. Auch die Industrie muss sich darauf einstellen und etwa in größerem Umfang Materialien bereitstellen, die mehrere Jahre steril sind. Wir müssen damit rechnen, dass im Kriegsfall Lieferketten unterbrochen werden – die Corona-Pandemie hat uns gezeigt, wie schnell das gehen kann.
Sind Chirurgen für die Behandlung von kriegs- oder anschlagsbedingten Verletzungen gerüstet?
In Deutschland haben wir durch die Ukraineverletzten Erfahrungen auch in zivilen Einrichtungen gesammelt. Diese Verletzungen sind gänzlich anders als bei klassischen Unfällen. Es sind penetrierende Verletzungen durch Schusswaffen, bewaffnete Drohnen, durch Raketen, Minen. Die Körperoberfläche ist deutlich zerstört, bevor Bauchraum, Brustraum oder Kopf in Mitleidenschaft gezogen wird, es kommt oft zu einer großen Weichteilzerreißung, dem Abriss von Gliedmaßen. Das ist ein ganz anderes Verletzungsbild. Zusätzlich kommen besondere Fragestellungen auf uns zu, etwa, was tut man, wenn eine Schwangere schwer verletzt ist?
Kann man solche Ernstfälle in der Theorie überhaupt üben?
Man kann sich bis zu einem gewissen Grad vorbereiten. Wichtig wären Übungen, bei denen eine ganze Klinik 24 Stunden wirklich einen Ernstfall, ein Großereignis durchgeht. In dieser Zeit erwirtschaftet sie aber keine Erlöse und das muss man ausgleichen – dazu braucht es politischen Willen, das zu finanzieren. Wir haben zwar das von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie finanzierte TraumaNetzwerk und das Traumaregister, eines der größten der Welt, in dem die Behandlungsdaten von Verletzten eingepflegt werden und Behandlungsmethoden zugänglich sind, ohne Übungen wird es aber nicht funktionieren. Die Politik nimmt das wohlwollend zur Kenntnis, kümmert sich aber nicht um die finanziellen Belastungen – das ist ein Zustand, der uns zunehmend Sorge bereitet.
Ist politisch der Wille da, mehr zu investieren?
Es ist bekannt, dass etwas getan werden muss, aber nicht, was getan werden muss - hier sind wir als Experten gefragt. Derzeit passiert sehr viel auf Eigeninitiative von Chirurginnen und Chirurgen, die sich oft auf eigene Kosten weiterbilden. Wir etwa haben Kurse für Terror and Disaster Surgical Care und bereits 900 erfahrene Kolleginnen und Kollegen ausgebildet – das reicht natürlich nicht. Wir haben zaghafte Anfragen von einzelnen Bundesländern, die Ärzte schulen lassen möchten und die Finanzierung übernehmen würden, aber das muss systematisch erfolgen und bräuchte ein Commitment der Länder- und Bundesregierung.
Wie gehen Chirurginnen und Chirurgen mit der psychischen Belastung um, die derartige Verletzungen auslösen können?
Man muss damit im Team umgehen. Wichtig ist, dass nach einer schwierigen Situation im OP nicht jeder seines Weges geht, sondern man sich zusammensetzt und darüber spricht - und zwar alle beteiligten Ärzten und das Pflegepersonal. Viele Verletzte aus der Ukraine, die derzeit zu uns kommen, sind sehr jung, teilweise Kinder, das kann schon sehr zusetzen, vor allem wenn man bedenkt, dass der Pflegeberuf ein Lehrberuf ist und Krankenpfleger in der Ausbildung selbst oft sehr jung sind. Wenn man merkt, jemand leidet zu sehr, brauchen nicht nur die Verletzten selbst, sondern manchmal auch die versorgenden Personen die Traumapsychologie.
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