Übergewicht und Sportunterricht: "Kinder brauchen Erfolgserlebnisse"

Ein mehrgewichtiges Kind beim Sport.
Schule hat die Chance, Freude an Bewegung zu fördern, kann sie aber auch zu Nichte machen, wenn auf übergewichtige oder adipöse Kinder nicht eingegangen wird.

Seit rund einem Monat bestreiten Österreichs Kinder und Jugendliche wieder den Schulalltag. Übergewicht und Adipositas unter jungen Menschen haben auch Auswirkungen auf das Leben in der Schule. 

Laut Daten der Österreichischen Adipositas Gesellschaft (ÖAG) ist in Österreich jedes dritte Kind im Alter von neun bis zehn Jahren übergewichtig. Adipositas als krankhafte Form des Übergewichts betrifft bei Buben bereits 11,8 Prozent, bei Mädchen 8,5 Prozent. Tendenz steigend. Im August veröffentlichte Ergebnisse der wissenschaftlichen Projektstudie "EDDY" (der KURIER berichtete) zeigen, dass schulische Interventionen im Bereich Ernährung und Sport die Gesundheit von Schülerinnen und Schülern positiv beeinflussen können.

Achtsamer Umgang mit betroffenen Kindern

Sportpädagoginnen und -pädagogen stehen angesichts steigender Zahlen von übergewichtigen Schulkindern vor Herausforderungen. Viel Sensibilität sei gefragt, um Kinder adäquat zu betreuen und ihnen die Motivation nicht zu nehmen, sagt Anna Maria Cavini. Sie ist Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde und leitet seit Jahren das Interventionsprojekt "Down&Up" für übergewichtige Kinder und ihre Familien.

Ein Gespräch darüber, warum Sportunterricht mit übergewichtigen Kindern besondere Rücksichtnahme braucht und welche wirksamen Veränderungen im Schulsystem fehlen.

KURIER: Wie sollte moderner Sportunterricht gestaltet werden – insbesondere für Kinder mit Gewichtsproblemen?

Anna Maria Cavini: Das Um und Auf ist spaßbetonter Sportunterricht, der die Freude an Bewegung fördert. Dazu braucht es Erfolgserlebnisse, die man Kindern verschaffen muss, ohne auszuschließen und zu vergleichen. Die Kinder brauchen eine Basis, um sportmotorische Fähigkeiten auszubauen, Kraft und Ausdauer zu trainieren und Beweglichkeit zu fördern. Man kann Kindern verschiedene Sportarten schmackhaft machen und die Chance geben, Vereinen beizutreten, Teil einer Gruppe zu sein und Sport schlussendlich in der Freizeit zu betreiben. Eine Betonung auf Leistung ist da hinderlich.

Welche Fehler passieren im Sportunterricht, die Kinder und Jugendliche negativ beeinflussen?

Ich kenne großartig Sportpädagoginnen und -pädagogen, aber leider auch viele Leidensgeschichten von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen. Bei mir sitzen Kinder in der Praxis, die mir unter Tränen erzählen, wie sie es nicht geschafft haben, bei einem Parcours unter der Langbank durchzuklettern. Wenn Kinder in der Gruppe sind, für die anatomisch gewisse Übungen nicht funktionieren, sollte man diese Übungen adaptieren. Oder wenn es nach wie vor passiert, dass Kinder ihre Gruppen wählen bei Mannschaftsspielen. Was logischerweise dazu führt, dass jemand übrigbleibt, der das "Problem" für die Mannschaft ist –  à la "den wollen wir nicht haben". Wie sich das anfühlt, kann man sich vorstellen.

Welche Auswirkungen kann es haben, wenn der Sportunterricht defizitorientiert abläuft?

Zum einen gibt es Kinder, die sich zurückziehen und beginnen, den Sportunterricht zu meiden. In meiner täglichen Arbeit erlebe ich Kinder mit psychosomatischen Beschwerden, die am Morgen vor dem Sport unter Bauchschmerzen oder Erbrechen leiden, weil der Gedanke daran, wieder gehänselt und bloßgestellt zu werden, Angst und Panik in ihnen auslöst. Degradierende Erlebnisse begünstigen die Entwicklung von Essstörungen. An der "Down & Up"-Akademie unterrichten wir zum Beispiel jedes Jahr extrem engagierte Pädagoginnen und Pädagogen, die kompakt an zwei Wochenenden Basiswissen über medizinische Grundlagen, Sportmedizin und praktische Möglichkeiten der Unterstützung in den Bereichen der Bewegung und Ernährung als auch psychologische Tools erlernen.

Welchen Effekt kann der Sport in der Schule in Hinblick auf Übergewicht überhaupt haben, wenn er privat vernachlässigt wird?

Die große Chance der Schule ist es, dass sie inklusiv ist für alle Kinder. Gerade bei Interventionsprojekten im Rahmen von freiwilligen Nachmittagsprogrammen ist es schlussendlich oft so, dass wir damit viele sozial schwache Familien nicht erreichen. Hindernisse können sein: Kinder von A nach B zu bringen ist irrsinnig schwierig, wenn die Mutter alleinerziehend ist oder auch sprachliche Barrieren, wenn Migrationshintergrund besteht. Als Folge erreicht man vermehrt Kinder, deren Eltern motiviert sind, und nicht jene, die wenig familiären Support haben. Nicht, weil er nicht gegeben werden will, sondern, weil die Möglichkeit fehlt. Deswegen braucht es inklusive Angebote. Den Willen zur täglichen Turnstunde seitens der Politik vermisse ich seit Jahrzehnten. Studien beweisen, dass sie eine riesengroße Auswirkung auf die Gesundheit aller Kinder hätte.

Ernährung ist ein weiterer wichtiger Baustein ...

Absolut. Wir wissen, dass die mangelnden Ressourcen in sozial schwachen Familien negative Auswirkungen auf das Ernährungsverhalten haben. Gleichzeitig wissen wir aus anderen Ländern von den positiven Auswirkungen eines kostenlosen warmen Mittagessens an Schulen. Daten aus Ländern, in denen die kostenlose Schulverpflegung implementiert ist, zeigen uns, dass die Kinder besser ernährt sind. Das zeigt sich dann am Gewicht, aber auch in der Nährstoffversorgung – es liegen weniger Nährstoffdefizite vor. Denn auch übergewichtige Kinder können einen Vitaminmangel haben. Betroffene essen zwar hochkalorisch, die Lebensmitteln decken aber zu wenige Vitamine und Nährstoffe ab. Es bräuchte also eine nährstoffbalancierte Mahlzeit, die kostenlos ist.

Übergewicht und Sportunterricht: "Kinder brauchen Erfolgserlebnisse"

Sensibler Umgang: Anna Maria Cavini schult auch Pädagogen.

Das Gesundheitsministerium hat 2011 die "Leitlinie Schulbuffet" erstellt. Sie enthält Mindestkriterien, um die Jausen- und Getränkeauswahl am Buffet sowie in Automaten gesund und nachhaltig zu gestalten. Bleibt so etwas ohne Effekte?

Erfahrung und  Realität zeigen, dass es sich hierbei um Empfehlungen handelt, die leider in der Schublade verstauben und eine nicht konsequente Umsetzung der Mindeststandards keine Folgen nach sich zieht. Die Umstellung der Kantinen und Schulbuffets auf gesunde Snacks und der Ersatz von gesüßten Getränken durch Wasser an allen Schulen wäre ein leicht umzusetzender und kostengünstiger Hebel mit großer Wirkung. 

Haushaltsökonomie und Ernährung kann man auf Lehramt studieren, ist bis heute aber kein reguläres Fach an Pflichtschulen.

Vom Kindergarten an gehört Ernährungs- und Bewegungsbildung in die Schulen. Das heißt, wir können nicht früh genug anfangen, um Chancen für Kinder zu erhöhen, dass sie selbst zum Experten oder zur Expertin werden. Dazu zählt ein gesundes Essen, dazu zählt Bewegung, und natürlich auch die psychische Gesundheit. In der Gesundheitspolitik passiert angesichts der Entwicklung seit Jahrzehnten zu wenig. So bleiben Kinder die letzten in der Kette und die am schlechtesten medizinisch versorgten, was ihre körperlichen und psychischen Beschwerden angeht – vor allem wenn es zu Problemen kommt.

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