Therapie-Boom: Notwendige Hilfe oder Lifestyle-Trend?
Zusammenfassung
- Psychotherapie ist essenziell bei echten psychischen Erkrankungen, sollte aber kein Lifestyle-Trend oder Dauerprojekt werden.
- Die wachsende Offenheit für psychische Gesundheit ist positiv, doch nicht jede Gefühlsregung ist therapiebedürftig.
- Ständige Selbstbeobachtung und die Inflation psychologischer Begriffe können zu Verunsicherung und Identitätsproblemen führen.
Psychotherapie ist ein Segen – für jene, die sie brauchen. In Österreich ist sie Teil der Krankenbehandlung, keine Wellnessmaßnahme. Sie ist dann indiziert, wenn eine psychische Störung mit Krankheitswert vorliegt, und kann Menschen in existenziellen Krisen auffangen: bei Depressionen, Angststörungen, Traumata oder nach schweren Verlusten. Dass erste Hilfe für die Psyche heute leichter zugänglich und akzeptiert ist, gilt als Fortschritt. Doch mit der wachsenden Offenheit ist auch ein neues Phänomen entstanden: Immer mehr Menschen suchen therapeutische Unterstützung ohne akute Krise, teils aus dem Wunsch nach Selbstentwicklung, teils aus dem Bedürfnis nach Bestätigung. Aber wo verläuft die Grenze zwischen notwendiger Hilfe und modischem Heilungsdrang? Dazu kommt: Wir leben in einer Zeit der Überaufmerksamkeit – auch gegenüber dem eigenen Seelenzustand. Wir reflektieren, analysieren, therapieren – uns selbst und andere. Wo endet sinnvolle Selbstreflexion, und wo beginnt die Endlosschleife der Selbstbeschäftigung?
Mag. Barbara Haid, Psychotherapeutin und Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP), erlebt beides. Einerseits sei es gut, dass solche Themen kein Tabu mehr sind, sagt sie. Das Bewusstsein für psychische Gesundheit sei gewachsen, Menschen trauten sich, Hilfe zu suchen. „Doch nicht jede Gefühlsregung ist gleich krankhaft“, betont sie. Stimmungstiefs oder Kränkungen gehörten zum Leben. „Liebeskummer, zum Beispiel, ist keine Krankheit, auch wenn er sich schrecklich anfühlt.“
Selbstreflexion als Dauerprojekt
Haid unterscheidet klar zwischen Psychotherapie im engeren Sinn – also der Krankenbehandlung – und begleitenden Formen wie Selbsterfahrung, Supervision oder Coaching. Entscheidend sei, wozu eine Therapie begonnen wird – und wann sie wieder ende. Sie müsse einen klaren Rahmen haben, „sonst wird sie zum Dauerprojekt“. Wer ohne Leidensdruck einfach „besser funktionieren“ wolle, sei beim Coach gut aufgehoben. In der Psychotherapie gehe es nicht um Optimierung, sondern um Selbstakzeptanz. „Wer immer mehr aus sich herausholen will, sollte lernen, mit dem Gut-genug-Sein Frieden zu schließen.“ Entscheidend sei ein entsprechender Rahmen: „Es braucht einen klaren Auftrag, ein klares Ziel und auch ein klares Ende. Therapie darf kein Konsumgut werden.“
Bei schweren psychischen Erkrankungen – etwa Depressionen oder Angststörungen – sieht Haid die Sache naturgemäß anders. Hier brauche es oft engmaschige Begleitung, manchmal auch medikamentöse Unterstützung. „Gerade bei schweren Depressionen ist die Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und -therapeuten und gegebenenfalls Kliniken entscheidend“, sagt sie. In solchen Phasen gehe es nicht um Selbstoptimierung, sondern schlicht um Stabilisierung. Psychotherapie könne hier helfen, den Alltag wieder schrittweise zu bewältigen und die Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. „Ziel ist immer, dass Menschen wieder selbst leben können – mit ausreichend Energie, Hoffnung und Vertrauen.“ Sie zitiert die amerikanische Psychotherapeutin Hilde Bruch: Patientin und Therapeutin sitzen gemeinsam in einem Boot – anfangs braucht es Führung, später soll die Patientin selbst das Ruder übernehmen. „Und irgendwann steigt die Therapeutin aus, damit die andere weiterfahren kann.“
Mag. Barbara Haid
Ständige Selbstbeobachtung
Gerade die sozialen Medien hätten zu einer Kultur ständiger Selbstbeobachtung geführt, sagt Haid. Das könne kippen: Wenn Selbstreflexion überdosiert werde, verliere man den Kontakt zur Intuition. Aus der Suche nach Klarheit werde Grübelei, aus Entwicklung Verunsicherung. „Wer nur noch denkt und analysiert, verliert seine Lebendigkeit.“ Besorgt zeigt sich Haid auch über den Sprachwandel. Begriffe wie „toxisch“, „Trigger“ oder „narzisstisch“ würden inflationär verwendet und verlören dadurch ihren eigentlichen Sinn. „Wenn etwas wirklich toxisch ist, geht es um massiven Leidensdruck“, sagt sie.
Die Frage, ob wir als Gesellschaft inzwischen zu sehr im „Therapiemodus“ leben, wird auch international diskutiert – besonders in den therapiebegeisterten USA. So widmete sich etwa die NPR/WBUR-Sendung „On Point“ kürzlich genau diesem Thema. Moderatorin Meghna Chakrabarti sprach mit der Londoner Autorin Freya India und der Aktivistin Laura Delano über eine Kultur, in der Heilung zur Identität geworden ist. Eine Studentin sagte dort sinngemäß: „Achtzig Prozent meiner Persönlichkeit bestehen aus meiner ADHS-Diagnose.“ Freya India formulierte es noch grundsätzlicher: „Wir haben gelernt, dass der Sinn des Lebens nicht in der Welt liegt, sondern in unserem eigenen Kopf.“ Der Blick richte sich also immer stärker nach innen – Selbstbeobachtung werde zum Lebensziel. Am Ende kamen alle zu folgendem Schluss: „Nicht alles ist Trauma. Manches ist einfach Leben.“
Der Kulturpsychologe Univ.-Prof. Thomas Slunecko beobachtet ebenso, wie tief das Therapeutische in unsere Lebenswelt eingesickert ist. In seiner Forschung an der Universität Wien untersucht er etwa auch Mental-Health-Apps. Ihn interessiert dabei weniger die Technik als die Machtstruktur dahinter. Er bezieht sich auf den Philosophen Michel Foucault, der beschrieben hat, wie moderne Gesellschaftssteuerung durch eine Art von dauernder Einflüsterung funktioniert: nicht durch äußeren Zwang, sondern durch mehr oder weniger subtile Handlungsaufforderungen. „Wir sind deshalb so gut lenk- und regierbar“, sagt er, „weil wir oft nicht wissen, wie wir unser Leben führen sollen, und andere brauchen – in erster Linie Experten aus dem Psychobereich –, um uns das zu sagen.“ Über Medien, Apps und soziale Plattformen werde uns vermittelt, was ein gutes Leben sei und wie wir uns selbst zu optimieren haben. Dabei wird meist auf ein ganz bestimmtes psychologisches Wissen Bezug genommen, bei dem Leistungsbereitschaft, Flexibilität und Selbstverbesserung im Vordergrund stehen. Zufälligerweise gerade Eigenschaften, wie sie für den Weltlauf brauchbar sind. Dieses Wissen, gerade wenn es über Mental-Health-Apps vermittelt ist, ist zahlenlastig und abstrakt und findet daher oft keinen Anschluss an die implizit psychologischen Kompetenzen, die wir aus unseren Lebenserfahrungen mitbringen, also die „natürliche“ Fähigkeit, Stimmungen zu lesen oder zu spüren, was mit uns emotional oder in Beziehungen passiert. Ein derartiges app-gestütztes abstrakt-technisches Psycho-Wissen kann zu einem seelischen Fremdkörper werden und weiter verunsichern.“
Therapie: Wann sinnvoll?
Für die Barbara Haid ist klar: „Wenn Leidensdruck besteht, man in denselben Mustern kreist, keine eigenen Lösungen mehr sichtbar sind, hilft Psychotherapie, wieder auf Kurs zu kommen“. Vieles regle sich auch ohne professionelle Hilfe – durch Freunde, Familie, Zeit. Vielleicht liegt darin die Kunst: zu erkennen, wann wir Hilfe brauchen und wann wir uns selbst vertrauen dürfen. Psychotherapie ist wertvoll, wenn sie Leiden lindert und die Selbstwirksamkeit stärkt. Problematisch wird sie, wenn sie identitär wird (ich bin meine Diagnose), inflationär (alles ist therapiewürdig) oder endlos (kein Ziel, kein Ende). In anderen Worten: „Vieles ist einfach auch normal. Und es kommt und geht.“
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