People Pleaser: Woher kommt die Sucht nach Anerkennung?

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In Umfragen bezeichnet sich nahezu jeder Zweite als gelegentlicher „People Pleaser“. Eine US-Therapeutin wähnt die Ursachen in der Kindheit – und weiß, wie sich das Muster durchbrechen lässt.

Ihre Gedanken drehen sich ständig darum, was die Menschen um sie herum denken könnten. Geht es ihnen gut? Fühlen sie sich unwohl? Könnte sie vielleicht etwas Falsches gesagt haben?

Wenn Sonja (Name geändert) von einem netten Abend mit Freunden oder Arbeitskollegen heimkommt, geht sie im Kopf jedes Gespräch noch einmal durch. Häufig verbiegt sie sich oder verschweigt ihre eigenen Bedürfnisse, um keinen Streit aufkommen zu lassen. Sonja ist das, was man in der modernen Populärpsychologie einen „People Pleaser“ nennt. Übersetzen lässt sich das am besten mit „Menschen-Zufriedensteller“. Sie tun alles, um anderen zu gefallen, Harmonie zu wahren und es möglichst allen um sie herum recht zu machen. Meist auf Kosten des eigenen Wohlbefindens – oder sogar ihrer Gesundheit.

Therapieraum Social Media 

Zum ersten Mal kam der Begriff in der US-amerikanischen Populärpsychologie der 1970er-Jahre vor, um eine offizielle Diagnose handelt es sich bis heute nicht. Zum geflügelten Wort wurde „People Pleasing“ in den vergangenen Jahren durch soziale Medien, wo junge Menschen Mental-Health-Themen neu verhandeln. Meist taucht People Pleasing dort im Kontext anderer Trend-Themen wie toxische Beziehungen oder Selbstfürsorge auf, alleine auf Tiktok verzeichnet der Hashtag fast zwei Milliarden Aufrufe. Persönliche Kurz-Videos à la „Aus dem Leben eines People Pleasers“ wechseln ab mit virtuellen Checklisten und Tipps, wie Betroffene das Muster durchbrechen könnten.

Wie sich die chronische Harmoniesucht zulasten der eigenen Persönlichkeit anfühlt, weiß auch Meg Josephson ganz genau. Aufgewachsen in einem Zuhause mit suchtkranken und unberechenbaren Eltern, erkannte die US-Amerikanerin aus dem Mittleren Westen schon früh, dass sie sich durch People-Pleasing-Mechanismen in der eigenen Familie sicherer fühlte.

Kindlicher Schutzmechanismus

In ihrem Erwachsenenleben jedoch realisierte sie, wie sehr ihr das erlernte Verhalten im Weg stand. „Ich merkte zum Beispiel, dass ich früher ständig die Stimmung meines Vaters beobachten musste – ich musste sicherstellen, dass er gut gelaunt war, damit er nicht in Wut ausbrach“, erzählt sie im Gespräch mit KURIER leben. „Als ich dieses Umfeld verließ, blieb diese erhöhte Wachsamkeit bestehen – sie zeigte sich nur in anderen Formen: Ich bekam Panik, wenn mein Chef sagte: ,Können wir kurz reden?’ oder dachte sofort, dass eine Freundin wütend auf mich ist, wenn sie mir eine Nachricht ohne Rufzeichen schrieb.“

Mit Gedanken wie diesen spricht sie der Generation Therapy – wie die selbstreflektierten Millennials tituliert werden – aus der angeknacksten Seele. Josephson, der auf Social Media Hunderttausende folgen, hat eine neue Erklärung für das Phänomen People Pleasing parat: Die Gefallsucht ist laut ihrer Definition kein Charakterzug, sondern eine Reaktion auf Traumata. „Vielleicht bist du in einem angespannten Zuhause aufgewachsen, wo du ständig die Stimmung eines Elternteils managen musstest. Oder du hattest eine kritische Bezugsperson, bei der du nur dann Anerkennung bekommen hast, wenn du ,perfekt’ warst. In solchen Umfeldern lernen Kinder oft: Wenn ich brav, ruhig, angepasst oder perfekt bin, bin ich sicher“, erklärt die Psychotherapeutin.

Körperliche Symptome

Ihr neuestes Buch zum Thema heißt „Are You Mad At Me?“ (als „Bist du sauer auf mich?“ ab sofort auch auf Deutsch erhältlich) und wurde von der New York Times als „eine Heilung für chronisches People Pleasing“ gepriesen. Der Untertitel liest sich wie eine Kampfansage an das eigene Ich: Wie du aufhörst, anderen gefallen zu wollen, und endlich dein Leben lebst.

Aber warum hat eine ganze Generation panische Angst vor Ablehnung? Während Zurückweisung immer schon mit Gefahr assoziiert war, hat das Thema durch die permanente Selbstdarstellung im Netz neue Dimensionen erreicht, sagt Josephson – es sei de facto unmöglich geworden, es allen recht zu machen.

„Als ich Therapeutin wurde, sah ich, wie weit verbreitet dieses Muster auch bei meinen Klienten ist – und begann, mein Verständnis der Fawn-Reaktion zu vertiefen“, berichtet die Autorin. „Fawn“ – zu Deutsch: Anbiedern, Schmeicheln, Beeindrucken – bezeichnet neben Kampf, Flucht und Erstarren eine der vier Reaktionen des Körpers auf Bedrohung. „Im Kern sagt das People Pleasing – also die Fawn-Reaktion – Folgendes: Meine Sicherheit hängt davon ab, ob ich dir gefalle. Ich kann mich erst sicher fühlen, wenn ich weiß, dass du mich magst. Um erfolgreich zu ,pleasen’, müssen wir uns selbst aufgeben.“

Im Fall von Josephson, Sonja und vielen anderen Betroffenen heißt das: Konflikte vermeiden um jeden Preis, Ja sagen und Nein meinen oder etwa mit Menschen befreundet sein wollen, die einen schlecht behandeln (siehe li.). Der anhaltende Stress versetzt den Körper in erhöhte Alarmbereitschaft, der Cortisolspiegel steigt, die Muskeln verspannen, der Schlaf leidet, man fühlt sich erschöpft und ausgebrannt.

Josephson beschreibt in ihrem Buch, wie sie es geschafft hat, die Spirale zu stoppen. Da der Fawn-Modus unbewusst abläuft, sei der erste Schritt, diesen überhaupt zu bemerken und innezuhalten: „Statt automatisch zu reagieren, könnte man sich folgende Fragen stellen: Was will ich eigentlich gerade? Muss ich wirklich sofort auf diese Nachricht antworten? Darf ich mich zuerst um mich kümmern?“

Weniger Harmonie, mehr Egoismus?

Was die Frage aufwirft, ob ein Ende des People Pleasing und das Bestreben nach Abgrenzung nicht im Umkehrschluss zu mehr Egoismus führt. „Wir Menschen sind soziale Wesen und streben nach Harmonie“, betont die Psychotherapeutin. Manchmal sei People Pleasing nötig, etwa, wenn man auf einen Job angewiesen ist. „Die Heilung der Fawn-Reaktion bedeutet nicht, dass wir aufhören sollen, freundlich zu sein oder Beziehungen zu pflegen“, unterstreicht Josephson. „Sie liegt darin, in Verbindung mit sich selbst zu kommen – während man gleichzeitig in Verbindung mit anderen bleibt.“

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