Long Covid: "Es ist höchste Zeit, ein Umdenken zu schaffen"

Neurologe Michael Stingl.
Der Neurologe Michael Stingl betreut viele Long-Covid-Patienten. Was er zur Versorgung Betroffener sagt und welche Probleme er sieht.

Etwa 10 bis 20 Prozent aller Covid-Infizierten entwickeln Long Covid. „Für bestimmte Probleme, die auftreten können, ist klar, wohin man sich wendet. Bei einem Lungenschaden an den Lungenfacharzt, an den Kardiologen bei Herzschäden. Das Problem entsteht, wo man trotz ausführlicher Abklärung nichts findet, es aber den Leuten schlecht geht. Viele dieser Betroffenen leiden unter ME/CFS und für sie gibt es derzeit keine ausreichende Versorgung“, sagt der Wiener Neurologe Michael Stingl, der sich auf ME/CFS spezialisiert hat.

Der Bedarf ist groß – Stingl kann derzeit keine neuen Patienten annehmen. Anlaufstellen gibt es kaum und das obwohl das chronische Erschöpfungssyndrom laut Stingl in Österreich etwa 80.000 Menschen betrifft. Laut der Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage vom Oktober sieht das Sozialministerium die Versorgung von Patienten mit postakuten Infektionssyndromen wie Long Covid oder ME/CFS als „flächendeckend gesichert“.

Eine Einschätzung, die Stingl nicht teilt. „Anders als bei diversen anderen Erkrankungen gibt es keine Spezialambulanzen – jene, die es für Long Covid gab, wurden großteils wieder geschlossen. Dabei braucht ME/CFS ein sehr spezifisches Management und Expertise. Viele Therapien, die bei anderen Erkrankungen helfen, sorgen bei ME/CFS für Überanstrengung und Rückschläge, können aktiv Schaden zuführen“, betont der Neurologe. Der Hausarzt – oft die erste Anlaufstelle – könne meist keine adäquate Versorgung leisten. Laut Ministerium werde an einem flächendeckenden Netz spezialisierter Versorgung und einer Verkürzung der Patientenwege „intensiv gearbeitet“.

Einordnung als psychiatrische Erkrankung?

Wie wenig Gehör Betroffene auch in der Fachwelt finden, zeigt ein aktueller Fall einer betroffenen Frau, der Rehageld entzogen wurde, nachdem ihr ein Sachverständiger Arbeitsfähigkeit bescheinigt hatte. Die Frau hatte mithilfe der Arbeiterkammer geklagt, da nicht alle Privatgutachten sowie der aktuelle wissenschaftliche Stand berücksichtigt worden waren. Das Oberlandesgericht hob den Beschluss auf.

Dass es zahlreiche ähnliche Fälle geben dürfte, zeigt zudem eine gemeinsame Recherche von APA, ORF und Dossier vom Mai. In zugespielten Fällen wurden 79 Prozent der Anträge abgelehnt (oder Leistungen entzogen). Die Diagnosen ME/CFS oder Post Covid wurden bei mehr als der Hälfte der Gutachten komplett negiert und bei rund 40 Prozent in eine psychische oder psychosomatische Diagnose abgeändert.

Die Einordnung als psychiatrische Erkrankung sei laut Stingl ein Grund dafür, weshalb die Zahl der Betroffenen nicht gut erfasst ist. „ME/CFS kommt in der Ausbildung wenig bis gar nicht vor. Es bräuchte Strukturen und Spezialambulanzen, wo Ärzte Erfahrungen sammeln können und Therapieversuche wissenschaftlich begleitet stattfinden“, fordert der Neurologe. Falsche Therapien, Misstrauen gegenüber Betroffenen, Behörden- und Gutachtertermine führen nicht nur zu Verschlechterungen, sondern auch zu großer Frustration und Angst. „Es ist höchste Zeit, ein Umdenken zu schaffen“, so Stingl.

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