Wie Arsen und Bandwürmer die Medizin formten: Neue Einblicke von Dr. Angetter-Pfeiffer
Operationen ohne Narkose, Blutegel als Lebensretter, Arsen auf dem Frühstücksbrot: Die Medizinhistorikerin und Notfallsanitäterin Daniela Angetter-Pfeiffer beschreibt in ihrem aktuellen Buch „Rausch, Gift und Heilung“ (Amalthea), wie nah Fortschritt und Irrweg in der Medizin stets beieinander lagen – und warum manche alten Methoden heute ein Comeback feiern. Sie erzählt von mutigen Selbstversuchen, tödlichen Irrtümern und verblüffenden Parallelen zwischen alten Praktiken und moderner Forschung. Und davon, dass die Medizin immer von Mut und beharrlichem Forschergeist geprägt war, weil vieles, was heute kurios klingt, den Weg für viele Verfahren geebnet hat. Ein Gespräch über Leidenschaft, Fehleinschätzungen und den Wert evidenzbasierter Forschung.
Was fasziniert Sie an Medizingeschichte?
Vor allem die Entwicklungen über Jahrhunderte. Nehmen Sie die Narkose: in der Antike Opium, später Äther, entdeckt auf Jahrmärkten, schließlich moderne, gut verträgliche Narkotika. Diese Schritte finde ich spannend. Man erkennt daran, wie Wissen verloren gehen kann, wie es durch Zufall wiederentdeckt wird und wie mühselig der Weg zu einer sicheren Therapie ist. Das andere ist der Mut der Ärzte. Viele haben an sich selbst experimentiert: Anton von Störck testete hochgiftige Pflanzen, Guido Holzknecht, der Pionier der österreichischen Röntgenologie, musste sich über 60 Krebsoperationen wegen Strahlenschäden unterziehen und arbeitete trotzdem bis zuletzt. Diese Leidenschaft, dieser Durchhaltewillen beeindrucken mich enorm. Es zeigt, dass Forschung immer auch Opfer gefordert hat – nicht nur von Patientinnen und Patienten, sondern auch von den Ärztinnen und Ärzten selbst.
Wie wird man denn Medizinhistorikerin?
Eigentlich wollte ich Medizin studieren, habe mich aber wegen des schlechten Chemieunterrichts nicht getraut. Dann dachte ich an eine Ausbildung zur medizintechnischen Assistentin, musste dort aber ein Jahr auf die Aufnahme warten. Also habe ich beschlossen: Ich studiere Geschichte, Germanistik als Zweitfach – nur für ein Jahr.
Es hat Sie offenbar so fasziniert, dass Sie dabei geblieben sind …
Ja. Im dritten Semester kam ein Seminar über den Soldatenalltag in der K.-u.-k.-Armee. Ich zog als Thema die Sanitätsversorgung im 18. und 19. Jahrhundert. Ab diesem Zeitpunkt war klar: Mein Weg führt in die Medizingeschichte. Glück hatte ich auch: Mein erster Chef am Institut für Geschichte der Medizin hat mich gefördert, ich durfte Vorlesungen hören und habe viel medizinisches Wissen mitbekommen. Und ich bin selbst Notfallsanitäterin beim Roten Kreuz. Für mich ist das zentral: Wer Medizingeschichte betreibt, muss moderne Medizin verstehen, sonst begreift man Entwicklungen und Zusammenhänge nicht.
Das zeigt auch Ihr Buch.
Richtig. Bereits bei Recherchen zu früheren Büchern stieß ich auf unglaubliche Methoden. Operationen ohne Narkose, Abtreibungen mit Stricknadeln am Küchentisch, hochgiftige Pflanzen als Medikamente oder Lobotomien – dafür wurde 1949 sogar noch der Nobelpreis vergeben. Mich hat interessiert: Wie haben sich solche Verfahren entwickelt? Was ist daraus geworden? Spannend ist, dass manches völlig verschwunden, anderes aber wiedergekommen ist – freilich angepasst und evidenzbasiert. Die Geschichte zeigt uns: Auch Irrwege können Ausgangspunkte für Fortschritt sein.
Können Sie bitte einige Beispiele nennen?
Narkosemittel: Schlafschwämme mit Opium und Alraune waren in der Antike gebräuchlich, gerieten in Vergessenheit, kehrten dann wieder. Penicillin: In der Antike legte man schimmelige Lappen auf Wunden, ohne den Wirkstoff zu kennen. Dieses Wissen ging verloren, bis Alexander Fleming Penicillin entdeckte. Heute ist Kundl in Tirol ein europäisches Zentrum der Penicillin-Produktion. Und auch hier zeigt sich: Altes Erfahrungswissen und moderne Wissenschaft können einander begegnen.
Dr. Angetter-Pfeiffer im Gespräch mit Gabriele Kuhn
Auch Drogen finden zurück in die Medizin.
Richtig. LSD, Ecstasy oder Magic Mushrooms werden bei Traumafolgestörungen erforscht. Cannabis ist längst etabliert. Und Morphium ist in der Palliativmedizin unverzichtbar. Für Patienten im Endstadium ist es oft der einzige Weg, halbwegs schmerzfrei zu leben. Dasselbe Mittel, das im 19. Jahrhundert noch als gefährlicher Hustensaft kursierte, ist heute eine der wichtigsten Substanzen der Schmerztherapie.
Welche Methoden haben Sie bei der Recherche am meisten schockiert?
Ganz klar: die Lobotomie. Ärzte stachen über die Augenregion ins Gehirn, um Nervenbahnen zu durchtrennen. Patienten wurden so „ruhiggestellt“. Indikation waren psychische Erkrankungen oder Epilepsie. Eine grauenhafte Vorstellung – und doch galt es damals als Fortschritt. Spannend ist: Schädelöffnungen gab es schon in der Antike, etwa um Eiter abfließen zu lassen. Diese Menschen überlebten oft. Man hat sogar Knochen im Bauch zwischengelagert, um sie später wieder einzusetzen. Heute werden ähnliche Verfahren minimalinvasiv bei schwerer Epilepsie eingesetzt, mit völlig anderem Anspruch und Ergebnis. Das zeigt, wie eng Nutzen und Missbrauch oft beieinander lagen.
Viele alte Verfahren erleben ein Revival, etwa Kälte oder Blutegel. Wie sehen Sie das?
Kälte hat Wirkung, ob als Coolpack bei einer Zerrung oder in Form von Kneippkuren. Ob man Eisbaden braucht, ist Geschmackssache, psychisch kann es stärken. Blutegel sind in der Transplantationsmedizin relevant. Ihr Speichel fördert die Durchblutung und verhindert das Absterben von Gewebe. Das ist nicht schmerzhaft, nur gewöhnungsbedürftig. Dass eine jahrhundertealte Therapie heute in Spitzenkliniken wie der Berliner Charité eingesetzt wird, hätte man im 19. Jahrhundert kaum geglaubt.
Welche Heilmittel wirken heute völlig absurd?
Viele. Babys erhielten Morphinsirup gegen Husten oder Zahnschmerzen – mitunter tödlich. Es gab Morphingrüppchen, Damen injizierten sich das Mittel bei Kaffee-und-Kuchen-Runden. Oder Bandwürmer zum Abnehmen: Sie fraßen mit, hielten schlank, nur los wurde man sie schwer. Frauen nahmen Strychnin oder Arsen, weil es rosige Wangen versprach. In der Steiermark und im Burgenland war Arsenbrot noch bis in die 1970er-Jahre verbreitet. Bauern sagten, es verleihe Kraft, Überdosierungen führten zu Todesfällen. Solche Beispiele zeigen, dass Schönheit und Schlankheit zu allen Zeiten mit enormen Risiken verbunden waren.
Gibt es auch heute noch Irrwege?
Natürlich. Forschung bedeutet Versuch und Irrtum. Viele Ansätze scheitern im Labor, in der Krebs- oder Impfstoffforschung etwa. Anders als früher werden Irrwege heute nicht mehr am Menschen beschritten. Probandenstudien unterliegen strengen Ethikkommissionen und Aufklärungspflichten. Der „Mensch als Versuchskaninchen“ gehört der Vergangenheit an. Gleichzeitig gilt: Wissenschaft ist kein geradliniger Weg, sondern voller Sackgassen und Neubeginne.
Welchen Rat würden Sie angehenden MedizinerInnen geben?
Ich bin eine Verfechterin der evidenzbasierten Medizin, aber man sollte alte Verfahren nicht einfach als „überholt“ abtun. Vieles lässt sich in moderner Form sinnvoll nutzen. Entscheidend ist: Was bringt nachweislich Nutzen, was passt zum heutigen Standard? Wir haben heute enorme Vorteile: Bildgebung, Labordiagnostik, differenzierte Therapien. Wichtig ist, diese Möglichkeiten verantwortungsvoll einzusetzen und im Dialog mit Patienten die beste Lösung zu finden. Geschichte zeigt uns, wie schmal der Grat zwischen Irrweg und Fortschritt ist – und dass man Demut und Neugier gleichermaßen braucht, um Medizin voranzubringen.
Zur Person:
Dr. Daniela Angetter-Pfeiffer ist Autorin und Medizinhistorikerin, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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