Wie die Abnehmmedikamente Patienten unter Druck setzen
Auch Mediziner und Medizinerinnen sind nicht frei von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Adipositas.
Vorurteile gegenüber Menschen mit Adipositas halten sich hartnäckig: Sie gelten als faul, unkontrolliert oder ungesund. Diese Stereotype nehmen Betroffenen Chancen, sagt Internistin Johanna Brix, Leiterin der Adipositasambulanz der Klinik Landstraße. Auch medizinisches Personal trage dazu bei, wie sie im Interview erklärt. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Bianca-Karla Itariu will sie in einem neuen Buch darüber aufklären und Betroffenen mit Geschichten aus der Praxis eine Stimme geben.
KURIER: Wie zeigt sich, dass Menschen mit Adipositas in der Medizin stigmatisiert werden?
Johanna Brix: Ein Thema ist zum Beispiel, wenn Menschen mit Adipositas wegen einem gesundheitlichen Problem zum Arzt kommen, dass oft das Gewicht angesprochen wird, auch wenn es aktuell nicht ausschlaggebend ist. Das hat Konsequenzen – viele nehmen ihre Vorsorgetermine nicht mehr wahr, weil sie etwa bei der Muttermalkontrolle nicht schon wieder hören wollen, dass sie abnehmen sollen. Ärztinnen und Ärzte sind natürlich auch nur Menschen. Und man muss sagen: In meiner Ausbildung war das Einzige, das man immer gelernt hat, dass, wenn jemand zu dick ist, er ein schlechteres Outcome, ein höheres Risiko für Erkrankungen, ein erhöhtes Risiko frühzeitig zu sterben usw. hat. Das ist tatsächlich so und wir sind alle nicht frei von Vorurteilen, vieles passiert unterbewusst. Es geht aber darum, sich dessen bewusst zu werden. Das Gesundheitssystem muss hier vorangehen, und das geht nur über viel Aufklärung und Fortbildung.
Die Internistin Johanna Brix will mit Vorurteilen gegenüber Menschen mit Adipositas aufräumen.
Oft kommt: „Beweg„ dich mehr, iss’ weniger“. Warum reicht das nicht?
Bewegung ist nur für drei Prozent unseres Gewichtsverlusts zuständig. Sie spielt eher eine Rolle dafür, dass wir unser Gewicht halten können. Hinsichtlich Ernährung ist unser Gehirn so programmiert, dass es immer versuchen wird, ein einmal erreichtes Maximalgewicht wiederzuerlangen. Das hat evolutionäre Gründe. Diese steinzeitlichen Instinkte sind ein Schutzmechanismus des Körpers, man darf sie nicht unterschätzen. Die meisten Menschen haben schon einmal versucht, zwei, drei Kilo abzunehmen. Und quasi jeder hat das geschafft, dann aber wieder zugenommen. Wir wissen, dass Resistenzen gegen Darmhormone bestehen, die das einfach verunmöglichen. Und nur weil es ein paar wenige schaffen, ihr Gewicht zu halten, macht das die, die es nicht schaffen, nicht zu Verlierern. Sie werden aber sehr leicht als solche abgestempelt. Menschen mit Adipositas haben meist viele solcher Abnehmversuche hinter sich. Der Leidensdruck und auch die Scham sind sehr groß. Das zeigt sich auch bei der Abnehmspritze – viele halten geheim, dass sie die Medikamente verwenden, weil sie sich den blöden Kommentaren nicht aussetzen wollen, dass sie es sich „einfach machen“. Das ist nicht richtig. Man nimmt ein Hilfsmittel, ein Medikament. Wenn ich nichts an meinem Lebensstil ändere, werde ich auch nicht abnehmen. Unter derartigen Kommentaren leiden viele aber sehr. Die Taschentuchbox ist wichtiger Begleiter in meiner Ordination. Es gibt ganz viele Geschichten, die mich sprachlos zurücklassen.
Johanna Brix & Bianca-Karla Itariu: „Das Gewicht unserer Körper“, Haymon Verlag. 264 Seiten. 20 Euro.
Erhöhen die Abnehmmedikamente den Druck?
Ja. Wenn jemand übergewichtig, aber gesund ist und keine Begleiterkrankung hat, dann ist das nicht „behandlungspflichtig“. Aber es gibt immer Menschen, die sagen, warum machst du das nicht? Außerdem gibt es Menschen, die auf diese Therapien nicht reagieren. Dann ist man quasi überhaupt der Superloser. Weil jetzt gibt es das schon und trotzdem geht es nicht. Es gibt immer mehr den Weg zum normierten Menschen, weshalb auch viele, die die Kriterien eigentlich nicht erfüllen, zu Abnehmmedikamenten greifen. Allerdings muss man dazusagen, dass jemand, der zum Beispiel einen BMI von 28 hat, oft gar nicht so adipös wirkt, aber mit einer Begleiterkrankung wirklich auch von diesen Therapien profitiert. Was wir mehr brauchen, ist Verständnis und ein Umdenken für Menschen mit Adipositas. Betroffene sollen wissen, dass sie nicht alleine sind, und Adipositas eine chronische Erkrankung ist.
Hier setzt die Body-Positivity-Bewegung an, die sich für die Akzeptanz aller Körper einsetzt.
Das ist eine sehr wichtige Bewegung. Ich finde es einerseits sehr schön, dass viele junge Menschen mit Adipositas sich nicht so verstecken, wie das früher vielleicht der Fall war. Dennoch muss man auch sagen, dass zu viel Gewicht auf lange Sicht nicht gesund ist. Das ist ein schmaler Grat. Das heißt aber nicht, dass Menschen mit Adipositas von anderen ausgegrenzt oder verletzt werden dürfen.
Kommt irgendwann die Tablette, die uns alle schlank hält?
Die Abnehmmedikamente werden bald in Tablettenform verfügbar sein. Ich weiß nicht, ob sie eines Tages wirklich jeder nimmt. Ich glaube, wir werden ganz viel lernen müssen, für wen, was passend ist. Wenn die Daten weiterhin so positiv sind, wird aber schon eine breitere Gruppe diese Medikamente nehmen, so wie Cholesterinsenker oder andere Medikamente, die auch weit verbreitet sind, über die aber nicht so viel und so emotional diskutiert wird. Schön wäre, wenn wir zu dem Punkt kommen, wo wir Menschen mit Adipositas sehen wie alle anderen Menschen auch. Ich glaube aber, das ist noch ein langer Weg.
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