Top-Ökonom Fehr: "Wohlstand muss man zuerst erarbeiten"

Ernst Fehr
Der renommierte Verhaltensökonom spricht über Österreich, Deutschland, die Schweiz, Trump und was bei Corona falsch gelaufen ist. Und sagt, wie sich sein Weltbild gewandelt hat.

Wenn es um Kandidaten für den Wirtschaftsnobelpreis geht, fällt seit Jahren der Name Ernst Fehr. Der an der Uni Zürich tätige Vorarlberger ist Vorreiter der Verhaltens- und Neuroökonomie und zählt zu den renommiertesten Ökonomen. Fehr war auf Einladung der Akademie der Wissenschaften in Wien und gab dem KURIER als einziger Zeitung ein Interview.

KURIER: In Berlin und Wien gibt es neue Regierungen. Deutschland will sich mit Hunderten Milliarden aus der Krise investieren, Österreich versucht sich aus der Krise hinaus zu sparen. Müsste man nicht beides gleichzeitig angehen?

Ernst Fehr: Das ist aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen nicht wirklich vergleichbar. Das Paradebeispiel ist die Deutsche Bahn. Da braucht es einfach massive Investitionen in die Infrastruktur. Und zweitens ist Deutschland für die europäische Verteidigung wichtiger als das kleine, neutrale Österreich. Österreich kann sich den Luxus erlauben, in gewissem Sinn Trittbrettfahrer der Rüstungsanstrengungen der anderen zu sein. Beide Bereiche zusammen, Infrastruktur und Bundeswehr, verschlingen in Deutschland Unsummen. Das hat Österreich in dieser Form nicht.

Sie leben seit 1994 in Zürich. Was kann Österreich von der Schweiz lernen?

Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen den beiden Ländern, auch kulturelle. In der Schweiz wurde beispielsweise mehrfach die Einführung der 40-Stundenwoche verworfen, man ist noch immer bei 42 Stunden. Oder die Erhöhung des Mindesturlaubs wurde per Volksentscheid abgelehnt.

Typisch Schweiz. Das Land ist viel stärker arbeitgeber- und wirtschaftsorientiert, Österreich mehr sozialpartnerschaftlich geprägt ...

Die Bevölkerung der Schweiz weiß einfach, dass man Wohlstand zuerst erarbeiten muss, bevor man ihn verteilen kann. Das spielt eine ganz wichtige Rolle.

Und die direkte Demokratie.

Ja, die direkte Demokratie kann, wenn man sie behutsam einsetzt, sehr nützlich sein, aber sie lässt sich nicht so einfach exportieren. In der Schweiz ist beispielsweise auch die Presselandschaft viel ausgewogener aufgestellt. Soll heißen, wir haben keinen so ausgeprägten Boulevard, der die Politik vor sich hertreibt. Das bedeutet, dass auch der Populismus durch die Volksabstimmungen eingedämmt wird.

Haben Sie ein Beispiel? 

Eine extrem lautstarke Gruppe wollte die Corona-Impfnachweise abschaffen. In der Volksabstimmung haben sie nur 38 Prozent der Stimmen bekommen, 62 Prozent waren gegen diese Initiative. Damit war das Thema erledigt. Die direkte Demokratie nimmt den Populisten die Möglichkeit, ständig zu behaupten, sie wären das Volk und hätten daher immer recht. Es ist – behutsam eingesetzt – ein Populismus-Bändigungsinstrument.

Österreich steckt heuer im dritten Rezessionsjahr. Stichwort: angstsparen statt konsumieren. Woher könnte neue Zuversicht kommen?

Zuversicht kommt durch Reformen. Ich empfinde es aber schon auch als Zeichen der Hoffnung, dass sich in Österreich die gemäßigten Kräfte gefunden und eine Regierung gebildet haben.

Sie sagen, Reformen bringen Zuversicht. Aber wenn ununterbrochen Reformen gefordert werden, redet man doch auch eine Art permanente Krise herbei, nicht?

Ja, das ist ein zweischneidiges Schwert. Man darf nicht zu viele Reformen auf einmal anpacken. Eine Regierung hat nicht unendlich politisches Kapital. Eine neue Regierung muss sich auf ein paar wesentliche Punkte wie die Budgetkonsolidierung konzentrieren und das umsetzen. Das schafft neues politisches Kapital für die nächste Reform. Das wäre mein schrittweiser Ansatz.

Wie kann man Trump und sein Zoll-Chaos lesen? Was würden Sie als Verhaltensökonom seinen Verhandlungspartnern raten?

Trump ist schon ein besonders schwerwiegender Fall. Man kennt zwar seine Absichten, aber wenn er merkt, dass etwas gegen ihn läuft, dann reißt er das Ruder schon mal um 180 Grad herum und verkauft das auch noch als gute Politik. Das Wichtigste ist, Ruhe zu bewahren, nicht selbst impulsiv zu reagieren und trotzdem mit einer gewissen Stärke Flagge zu zeigen.

Sie haben über Trump einmal gesagt, er holt das Mieseste aus Menschen heraus. Wie beurteilen Sie seinen Umgang mit der Wissenschaft, mit den Universitäten? Gibt es eine Chance, ein paar US-Kapazunder nach Europa zu holen?

Die Chance existiert, aber man sollte nicht glauben, dass das einfach wird. Auch wir in Zürich sind da dran, ich habe etliche Anrufe von US-Kollegen bekommen. Aber erstens ist es nicht einfach, die finanziellen Mittel freizuspielen, und zweitens kenne ich in den USA forschende europäische Wissenschafter, die teils seit Jahrzehnten davon reden, dass sie zurückkommen wollen und es trotzdem nie gemacht haben.

Warum sind Sie nicht in die Staaten gegangen? Sie hatten Angebote der renommiertesten Universitäten ...

Ich habe die Angebote aus den USA mit Mitte 40 bekommen, also in einem Abschnitt meines Lebens, in dem ich meine Karriere schon erfolgreich von Europa aus gemacht hatte. Ich brauchte die Netzwerke dort nicht, kannte ja alle Leute. Wenn die Angebote zehn, 15 Jahre früher gekommen wären, wäre ich vielleicht gegangen.

Sie waren als Student in Wien nicht nur Assistent beim heutigen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, sondern auch mit bekannten Namen wie Brigitte Ederer oder Willi Hemetsberger bei der linken Basisgruppe „roter Börsenkrach“. Gab es für Sie auch ideologische Gründe, nicht in die USA zu gehen, den Hort des Neoliberalismus?

Ich glaube nicht, dass das eine Rolle gespielt hat. Selbst in Chicago haben wir uns in der Ökonomie heute auf die Methoden verständigt. Wir generieren Wissen auf eine konsensuale Art. Die Wissenschaft ist ja die Antithese zur Ideologie. Ich halte es auch aus, wenn ich einmal falsch liege. Wenn das Argument gut und richtig ist, habe ich kein Problem damit, empirisch widerlegt zu werden.

Ernst Fehr

Ernst Fehr im Gespräch mit KURIER-Redakteur Michael Bachner

Apropos Wissen und Wissenschaft: Corona hat das Vertrauen in Eliten und Experten massiv erschüttert. Sie sagen, Vertrauen ist ein zentraler ökonomischer Wert. Wie es zurückgewinnen?

Indem man sich einem offenen, ehrlichen Dialog stellt und die Argumente des anderen auch mal akzeptieren kann, wenn sie überzeugend sind. Und indem man heute zugibt, dass manche Maßnahmen tatsächlich weit über ihr Ziel hinaus geschossen sind – wie die Ausgehverbote für Einzelpersonen. Ich verstehe, dass man in einer Pandemie keine Massenansammlungen zulässt, aber ein einzelner Mensch auf der Straße? In der Schweiz hatten wir nie solch rigorose Verbote, nur Schweden war noch liberaler. In Österreich war die Impfpflicht, die dann ohnehin nie durchgesetzt wurde, ein großer Fehler. Das war für das Vertrauen in die Politik sehr schädlich.

Sind Sie heute noch der Linke, der sie als Student waren? 

Ich bin nach wie vor jemand, dem die Chancengleichheit ein großes Anliegen ist. Hier gibt es noch viel zu tun. Zu viel wirtschaftliche Ungleichheit erzeugt auch eine Ungleichheit der Chancen. Gleichzeitig glaube ich auch, dass die Fantasien von damals, dass man durch die Abschaffung der Marktwirtschaft etwas erreichen könnte, völlig falsch waren. Heute bin ich der Überzeugung, dass eine vernünftig konzipierte Marktwirtschaft eine wichtige Grundlage für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wohlstand, und für Chancengleichheit, ist.

Sie haben ihr Leben lang zu Themen wie Fairness und Kooperation, von Verhandlungssituationen bis zum Arbeitsmarkt geforscht. Was denken sie über den Fachkräftemangel? Gäbe es den wirklich so massiv, wie behauptet wird, müssten doch die Löhne um 20, 30 Prozent steigen, oder?

Aus unternehmerischer Sicht ist es so, dass man gut qualifizierte Leute fast immer brauchen kann. Ich denke, wenn es wirklich so einen großen Mangel an Fachkräften gäbe, dann müssten die Gewerkschaften unglaubliche Verhandlungsmacht haben und müssten zur Durchsetzung von Lohnerhöhungen nicht mehr streiken. Von daher halte ich Ihre Skepsis über die Existenz des Fachkräftemangels für berechtigt, aber dazu bräuchte es nähere Untersuchungen.

Abschlussfrage: Sie sagen die Erkenntnisse der modernen Verhaltensökonomie können ideologische Einflüsse reduzieren und gesellschaftlichen Fortschritt ermöglichen. Ist das nicht sehr hoch gehängt in einer Welt voller Egoisten, Populisten und Narzissten von Trump bis Putin? Wenn ich zum Beispiel an den Kampf gegen die Erderwärmung denke ... 

Schauen Sie, es gibt kurzfristige Zyklen und langfristige Entwicklungen. Kurzfristig stimmt vieles sehr pessimistisch, langfristig ist fast alles besser geworden: weniger Kriminalität, weniger Armut in der Welt, mehr Bildung, mehr Glücksempfinden. Momentan schaut es wirklich nicht gut aus, aber man darf nicht nur auf die Ukraine und Gaza schauen. Ich beziehe meine Kraft aus den langfristigen positiven Entwicklungen.

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