Mittel- und Osteuropa droht die Deindustrialisierung

Der 13. Grow East Congress in Wien brachte ein ernüchterndes Ergebnis über die wirtschaftliche Lage und Aussichten in Mittel- und Osteuropa. „Wegen der russischen Invasion in der Ukraine hat sich viel geändert. Es gibt große Rückgänge bei den Bruttoinlandsprodukten“, sagt Arnold Schuh, Direktor des Kompetenzzentrums für Emerging Markets & Mittel- und Osteuropa an der Wirtschaftsuniversität Wien.
Ökonomen erwarten in Mitteleuropa einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen 2021 und 2023 von 5,4 auf ein Prozent, in Südosteuropa von 7,4 Prozent auf 2,3 Prozent und in Osteuropa von 4,5 auf minus 3,4 Prozent. Diese Rückgänge fühlen sich umso stärker an, weil es vor dem Krieg in der Ukraine wegen der Nachholeffekte durch die Corona-Krise besonders gut lief, sagt Schuh.

Ökonom Arnold Schuh
Stark betroffen
Nicht nur im Westen Europas, auch in Mittel- und Osteuropa werde eine Stagflation erwartet. „Länder mit einer geografischen Nähe zu Russland, Weißrussland und der Ukraine sind noch stärker betroffen als Westeuropa“, sagt Schuh. Sie seien noch stärker vom russischen Öl und Gas abhängig, der Umbau der Infrastruktur sei langwierig und kostspielig.
Inflationsranking
Im Inflationsranking befinden sich laut Schuh unter den Top-Ten neun Länder aus Mittel- und Osteuropa. Besonders stark betroffen seien die baltischen Länder, Ungarn und Tschechien. Hierbei soll es sich um eine strukturelle Inflation handeln, die lange anhalten werde. Die Unternehmen in diesen Ländern seien mit einer multiplen Krise konfrontiert und kämpften an vielen Fronten, sagt Schuh.
Neben der hohen Inflation und den hohen Energiekosten kommen Lieferkettenprobleme, Arbeiter und Fachkräftemangel und nun eben die Geopolitik dazu. Auch die schwache Konsumlaune tat ihr Übriges. Wegen der hohen Inflation müssen die Unternehmen mit Innovationen reagieren und preisgünstigere Produkte anbieten. „Derzeit sind Diskonter und Eigenmarken die großen Gewinner“, sagt Schuh.
Geopolitik unterschätzt
Die Geopolitik sei ein völlig neues Problem, auf das vor allem westliche Unternehmen nicht vorbereitet gewesen seien, weil sie es schlicht und einfach nicht am Radar hatten. „Sie dachten, Politik und Wirtschaft sind zwei getrennte Sphären und, dass man sie in Ruhe lassen würde“, sagt Schuh. Doch leider sei es anders gekommen.
Viele, die in Russland tätig waren, mussten sich zurückziehen. Der Baukonzern Strabag war seit 30 Jahren in Russland tätig und musste nun einen schmerzhaften Rückzug antreten, sagt Schuh. Der Grund: „Sie wollten ihr Geschäft in Polen nicht gefährden.“ Die polnische Regierung habe Unternehmen, die trotz des Angriffskrieges auf die Ukraine weiter in Russland tätig waren, auf eine Watchlist gesetzt.

Rückzug aus Russland
Da die Strabag in Polen mehr Geschäft macht als in Russland, war die Entscheidung klar, so Schuh. Ein Rückzug aus Russland sei jedoch nicht einfach. Es drohe zum Beispiel die Beschlagnahmung von Vermögenswerten, die nicht genutzt würden. Hier drohe ein großes Eskalationspotenzial.
Besonders dramatisch ist der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie wegen der hohen Energiepreise, nicht nur in Mittel- und Osteuropa, sondern auch in Deutschland, so der Wirtschaftsexperte. Gas koste in Europa derzeit fünf Mal so viel wie in den USA, das habe die Konkurrenzfähigkeit zerstört. Vor allem in der Autoindustrie seien Deutschland, Mittel- und Osteuropa stark verwoben. Die USA würden bereits mit Förderungen um Ansiedlungen von Unternehmen aus Europa werben, viele würden mit einer Übersiedelung bereits liebäugeln.
Große Abhängigkeit
„In Europa droht eine Deindustrialisierung, das ist ein Riesenthema und kann auch Mittel- und Osteuropa mitziehen“, sagt Schuh. Zur Verdeutlichung der Dimension des Problems: In Tschechien trägt die Industrie 23 Prozent zum BIP bei, in Slowenien 21 und in der Slowakei, Ungarn und Deutschland 19 Prozent. In Frankreich seien es dagegen nur neun und in den USA elf Prozent. Die hohen Energiepreise werden anhalten und Europas Industrie weiter in Atem halten – laut Prognosen mindestens bis 2026.
Österreich sei von der Entwicklung in Deutschland nicht so stark betroffen, da sich die heimische Industrie ein Stück weit abgekoppelt habe, so Schuh. Mittel- und Osteuropa seien jedoch nach wie vor wichtig, rund ein Viertel der Exporte gehen in diesen Raum. Ein Lichtblick ist laut Schuh der EU-Aufbauplan infolge der Pandemie. Er sieht Milliarden an Euro für Mittel- und Osteuropa vor, die in umweltfreundliche Produktion, Digitalisierung und Krisenresilienz fließen sollen.
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