Richard David Precht: "Wir ertragen andere Meinungen immer schwerer"
Artikel 13 im österreichischen Staatsgrundgesetz besagt: Jedermann hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Insgesamt ist die Meinungsfreiheit hierzulande sogar doppelt abgesichert. In der nationalen Verfassung und in der Europäischen Menschenrechtskonvention, Artikel zehn. Dennoch ist der deutsche Philosoph und Autor Richard David Precht überzeugt: Die Meinungsfreiheit schwindet. Die Gesellschaft gerät zunehmend in einen Angststillstand, der jegliche Weiterentwicklung unmöglich macht.
KURIER: Sie sehen die Meinungsfreiheit in Deutschland aber auch Österreich schwinden. Was befeuert diese Entwicklung?
Richard David Precht: Sagt jemand, dass sich die Meinungsfreiheit in einem Land verringert, würde man normalerweise erwarten, dass das von der Regierung ausgeht – durch massive Verschärfungen der Gesetze oder Repressalien. Das ist bei uns ja sehr weitgehend nicht der Fall. Das, was schwindet, ist die Meinungstoleranz. Wir ertragen andere Meinungen immer schwerer. Und diejenigen, die, was Moral anbelangt, die Deutungshoheit haben, reagieren immer allergischer darauf, wenn Meinungen kommen, die ihnen so gar nicht in den Kram passen. Dadurch erleben wir eine Verengung des Meinungskorridors.
Und das lässt sich belegen?
Wenn bei der Allensbach-Umfrage, die fast seit Gründung der Bundesrepublik jedes Jahr gemacht wird, nur noch 40 Prozent (bezieht sich auf Daten aus 2023, 2025 waren es 46 Prozent, Anm.) der Befragten sagen, dass man in Deutschland frei seine Meinung äußern kann, ist das ein alarmierender Wert. (Der Wert bewegte sich bis zu den 1990ern meist zwischen 70 und 80 Prozent und befand sich seitdem im Sinkflug, Anm.) Das ist für eine liberale Demokratie ein erschreckendes Ergebnis.
Das ist aber nur ein Gefühl der Menschen, nicht automatisch eine Tatsache.
Man ist immer so meinungsfrei, wie man sich fühlt. Meinungsfreiheit kann man nicht allein an der Gesetzeslage ablesen. Ganz viele Meinungsäußerungen sind völlig legal, aber man sollte sich trotzdem überlegen, ob man diese im öffentlichen Raum vertritt. Da liegt ja das Problem. Nicht darin, dass man wie in Autokratien dafür eine Strafe bekommt oder ins Gefängnis wandert. Diese Wahrscheinlichkeit ist gering. Aber dass man aneckt mit seiner Meinung, das geht heute viel leichter. Ich selbst bin 61 Jahre alt. Ich weiß ziemlich gut, dass das früher einmal anders war.
Meinung ist nicht gleich Meinung. Wo ziehen Sie persönlich die Grenze?
Wir haben die Grenze gut geregelt: Da, wo ich eine Äußerung tätige, die eine starke Beleidigung darstellt, da, wo ich jemanden verunglimpfe, Falsches unterstelle, dort, wo ich zur Gewalt aufrufe und dort, wo ich Volksverhetzung betreibe. Alles das sind in Deutschland Straftatbestände. Das Strafrecht zieht die Grenze, wo eine Meinung nicht mehr tolerierbar ist. Das reicht ja eigentlich aus.
Tut es das wirklich?
Darüber hinaus gibt es auch Normen. Wenn jemand die Situation in Israel oder Gaza sehr anders beurteilt als die etablierten Medien das tun, eckt der bei uns ganz stark an. Mir geht es nicht darum, die eine oder andere Meinung zu verteidigen. Aber es muss grundsätzlich möglich sein, in einer liberalen Demokratie unterschiedliche Meinungen zu haben.
Meinungsfreiheit beginnt nicht bei der strafrechtlichen Verfolgung. Sondern in dem Moment, wo die sozialen Kosten hoch werden.
im Interview mit dem KURIER
Als Leitmedium stellt man sich deshalb immer die Frage, wie man Meinungen gewichtet. Weil nicht jede existierende Position verhältnismäßig gleich viel Aufmerksamkeit bekommen kann.
Sie haben recht, aber: Anwälte für das Gendern finden Sie in Deutschland und Österreich eher wenige. Sie haben aber eine riesige Plattform! Was den Ukrainekrieg anbelangt, waren immer etwa vierzig Prozent der Deutschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und sie hatten so gut wie überhaupt keine Plattform. Das heißt: Die Größe der Plattform richtet sich in den Medien nicht danach, wie groß tatsächlich die Unterstützung für bestimmte Meinungen in der Bevölkerung ist.
Interessant ist: Das Recht auf Meinungsfreiheit wird primär von jenen hochgehalten, die Dinge sagen, die auf Widerstand stoßen.
Das liegt in der Natur der Sache, dass die, die sich in den etablierten Medien mit ihren Meinungen nicht wiederfinden, am stärksten für die Meinungsfreiheit kämpfen.
Und den anderen ist sie egal?
Die anderen würden sagen: Wir haben doch Gesetze. Sie wollen aber nicht wahrhaben, dass Meinungsfreiheit eben nicht bei der strafrechtlichen Verfolgung beginnt. Sondern in dem Moment, wo die sozialen Kosten hoch werden. Solange meine eigene Meinung im Mittelpunkt der Debatten der Öffentlichkeit steht, fällt mir nicht auf, wo Meinungsfreiheit verlacht wird oder Positionen zu stark bekämpft werden.
Richard David Precht ist Philosoph, Publizist und Autor, moderiert die Philosophiesendung „Precht“ im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz in einem wöchentlichen Podcast über gesellschaftliche und politische Entwicklungen. Für Aufsehen sorgte er u. a. mit der Befürwortung des bedingungslosen Grundeinkommens als Alternative zum Arbeitszwang. Oder als er, kürzlich wieder im ORF, Shitstorms mit Pogromen verglich. Die sozialpsychologische Funktion wäre eine ähnliche, sagt er.
Äußerungen kritisieren und zu hinterfragen, ist wichtig. Aber sind wir zu kritisch geworden oder sind wir endlich sensibilisiert genug?
Beides. Wir haben uns in der Gesellschaft immer stärker sensibilisiert und moralisiert. Das ist bis zu einem gewissen Grad ja gut und richtig. Ich möchte nicht zurück in die Vorurteilskultur der 50er- oder 60er-Jahre. Aber in dem Moment, wo wir sehr sensibel werden, passiert es, dass wir uns ganz schnell angegriffen fühlen. Dann kommen wir in eine Empörungsdemokratie, in der eine riesige Erregungsmaschinerie losgetreten wird. Und die führt wieder dazu, dass der Meinungskosmos immer geringer wird.
Welche Folgewirkung hat dieser „Angststillstand“?
Es bedeutet, dass sich eine Gesellschaft nicht weiterentwickeln kann. Wo es am auffälligsten ist, ist die moderne Kunst. Ihr elementarer Auftrag ist zu provozieren. Als Künstler können Sie das nicht mehr. Sie können natürlich Kunst gegen Rechts machen. Dann kriegen Sie Preise. Aber wenn Sie Kunst gegen die Wokeness-Kultur machen, ist das das Ende Ihrer Karriere.
Das Image eines Unternehmens ist heute viel schneller zerstörbar als früher.
im Interview mit dem KURIER
Die Vorsicht zieht sich auch durch die Unternehmenswelt. Firmen lassen weniger in sich hineinblicken, positionieren sich ungern politisch, CEOs treten bis auf Ausnahmen in den Hintergrund, geben Interviews nur mehr mit strenger Zitatefreigabe.
Das Image eines Unternehmens ist heute viel schneller zerstörbar als früher. In Zeiten, in denen es keine sozialen Medien gab, mussten sich Unternehmen darüber sehr viel weniger Gedanken machen. Wenn heute der CEO an der falschen Stelle eine falsche Formulierung benutzt, kann das gigantische Konsequenzen für die gesamte Firma haben.
Sind große Konzerne noch vorsichtiger als etwa kleine und mittlere Betriebe? Weil immer gleich der Aktiencrash droht?
Ich bin viel in der Wirtschaft unterwegs und die Berufsgruppe, die am wenigsten Angst hat, ihre Meinung zu sagen, sind die Führer von Familien und mittelständischen Unternehmen.
Wie das?
Das Selbstbewusstsein ist gerade bei Familienunternehmen, die über mehrere Generationen gehen, sehr ausgeprägt. Außerdem bekommen sie das Unternehmen per Erbe, das heißt, sie haben nicht den langen Weg durch die Institution machen müssen. Auf dem langen Weg der Anpassung muss man ja viele Hände schütteln, zehn verschiedenen Chefs gefallen und aufpassen, dass man bloß nicht aneckt.
Die Fallhöhe kann aber groß sein, wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt. Der Barilla-Chef verpasste seinen Nudeln für viele Jahre ein homophobes Image, beide Gründer von Ben & Jerrys sind nicht mehr Teil der Eiscreme-Firma, weil ihr Aktivismus zu weit ging.
Ich wünsche mir einfach eine Gesellschaft, die resilienter ist, die ein größeres Spektrum an Meinungsfreiheit zulässt. Und es gibt einen Zusammenhang: Je mehr die Menschen selbst aufpassen müssen, was sie sagen, umso enthemmter werden sie, wenn sich mal jemand etwas getraut hat. Da kann man seine angestaute Energie rauslassen.
Paradox ist: Die meisten fürchten Shitstorms, dabei können die sich bezahlt machen. Jeanshersteller American Eagle sagte kürzlich in einer Werbekampagne, dass eine weiße, normschöne Schauspielerin „good jeans“ bzw. „good genes“, also gute Gene hat. Die Empörung war groß. Der Aktienkurs schnellte nach oben (lesen Sie den Artikel hier).
Das ist ein raffiniertes Beispiel, aber ein einfacheres ist Donald Trump. Er produziert alle drei Tage einen Satz, über den die Welt sich aufregt. Irgendwann führt das dazu, dass Donald Trump eigentlich alles sagen kann, weil er außerhalb der moralischen Debatten steht. Solche Leute hat es immer gegeben. In Deutschland konnte Harald Juhnke sagen, was er wollte. Über den hat sich moralisch überhaupt keiner mehr aufgeregt, weil kein Maßstab mehr auf ihn passte. So ähnlich argumentieren auch die Rechten. Wenn sich hundert Mal über einen aufgeregt wurde, kommt es auf das hunderterste Mal nicht mehr an.
So passiert es, dass einer der reichsten Menschen der Welt auf einer Bühne plötzlich einen Hitlergruß zeigt. Ohne Konsequenzen.
Das ist nicht der Zustand, den ich mir wünsche. Dass wir aus der moralisierenden Übertreibung aus Trotz in eine Gesellschaft kommen, wo sich die Leute überhaupt keine Gedanken mehr machen, was sie öffentlich äußern. Mir wäre nur lieb, wir würden das moralische Korsett etwas lockern, damit nicht aus Trotz heraus eine Kultur der Unmoral entsteht.
Sie selbst bewegen sich auch häufig an der Grenze des Sagbaren. Macht Ihnen der Gegenwind nichts aus?
Es macht nie Spaß und man gewöhnt sich auch nie daran, wenn man große gesellschaftliche Empörung auslöst. Vor allem, wenn man es nicht vorgehabt hat. Aber mein Vorteil besteht darin: Ich hab’ meine Schäfchen im Trockenen. Ich kann freier über viele Dinge reden, als wenn ich am Anfang meiner Karriere stehen würde. Denn wäre meine öffentliche Karriere jetzt zu Ende, wäre es auch nicht tragisch.
„Angststillstand“ ist erschienen bei Goldmann, 208 Seiten, 20 Euro.
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