KURIER: Das Bild des Pflegeberufs ist kein Positives. Man spricht von Überlastung, Stress und schlechten Arbeitsbedingungen. Lässt sich dafür überhaupt noch jemand begeistern?
Wolfgang Sissolak: Die Covid-Pandemie hat kurzfristig mehr Aufmerksamkeit gebracht, der Trend hat sich aber leider nicht gehalten. Das Schwierige ist, die Vielfalt des Pflegeberufs darzustellen. Pflege wird oft ausschließlich mit Körperpflege gleichgesetzt, was zwar ein großer Bestandteil der Berufsgruppen ist, aber bei weitem nicht der einzige. Wenn man sich die höherqualifizierten Berufe in der Pflege anschaut, etwa den gehobenen Dienst, gehen die Aufgaben von Infusionszubereitungen für Chemotherapien bis hin zu hochkomplexen Wundbehandlungen. Diese Pflegekräfte haben über eine Expertise, die jener von Medizinern in nichts nachsteht.
Wo ist der Pflegebedarf aktuell besonders hoch?
In den Ballungsräumen spürt man den Mangel stärker. Dort ist es auch einfacher, den Arbeitgeber zu wechseln. Grundsätzlich gilt: Je höher qualifiziert eine Stelle ist, desto größer ist auch der Mangel.
Empfiehlt es sich also mit einem höheren Abschluss in die Pflege einzusteigen?
Jeder, der gerne mit anderen arbeitet, ist für den Beruf geeignet. Da gibt es für jeden etwas – mit oder ohne Matura. Wir setzen aber auch stark auf die Akademisierung, da wir sonst eine sehr große Gruppe an potenziell Interessierten ausgelassen hätten, allein schon wegen der vielen Frauen, die die Matura abgeschlossen haben.
Fällt es schwer, die Auszubildenden zu halten?
Es gelingt uns, viele für den Pflegeberuf zu begeistern, aber wir erleben auch, dass einzelne den Weg nach der Ausbildung nicht weitergehen. Es reicht nicht, FHs und Lehrsäle auszubauen – viele Sessel hineinzustellen. Wir müssen Menschen auch motivieren, sich dorthin zu setzen und bis zum Ende der Ausbildung sitzen zu bleiben. Wenn man sie danach schnell wieder aus dem Beruf verliert, kann man gar nicht so viele ausbilden, wie eigentlich nötig wären.
An welchem Punkt springen die meisten ab?
Im ersten Praktikum ist die Dropout-Quote hoch, weil gerade junge Menschen am Anfang überfordert sind. Es geht um Themen wie Scham, Tod, belastende Diagnosen, Ausscheidungen und um eine Nähe zu Menschen, die man vorher kaum gekannt hat. Es ist ein Beruf, der viel Übung und Erfahrung erfordert.
Was tun Sie als Pflegedirektor, um den Einstieg zu erleichtern?
Wir versuchen, unsere Auszubildenden anders abzuholen und besser zu begleiten. Etwa mit Praxis-Pädagogen. Das sind Mitarbeitende, die wir in der Praxis freistellen, damit sie sich hauptberuflich den Auszubildenden und neuen Mitarbeitenden widmen können. Außerdem haben wir ein Projekt am Ende der Ausbildung. Bei diesem übernehmen berufsjunge Menschen eigenständig die Verantwortung über eine Station. Auf diese Weise erleben und lernen sie die Komplexität, die dahinter steckt.
Praxis und intensive Betreuung sind also der Schlüssel?
Die Hälfte der Ausbildungszeit findet in der Bildungseinrichtung statt, die andere Hälfte in der Praxis. Im vergangenen Jahr haben wir in unseren Einrichtungen fast 600.000 Stunden nur praktisch ausgebildet. Das ist auch die Problematik, in der wir uns befinden. Wir bauen massiv Bildungsplätze aus, haben aber nicht plötzlich doppelt so viele Krankenhäuser. Wir brauchen funktionierende Stationen, Krankenhäuser, Pflegeheime und Hauskrankenpflege, damit man Auszubildende mitnehmen und ihnen die Fertigkeiten beibringen kann.
Wie eng wird es denn für die Auszubildenden in den Krankenhäusern?
In Wien und Oberösterreich wurden die rund 2.000 Pflegeausbildungsplätze pro Jahr um zehn Prozent erhöht. Wir sind an einem Punkt, an dem ich nicht glaube, dass es uns mit dem bestehenden System gelingt, das unterzubringen, was auf uns zurollt.
Jährlich werden immer mehr Pflegekräfte gebraucht. Wie will man den Bedarf langfristig decken?
Bis 2040 wird die Zahl der über 80-Jährigen um 198 Prozent steigen. Wenn wir an unserem System nichts ändern, werden wir mit der aktuellen Ausbildungsrate den Bedarf niemals decken können. Da hilft es auch nicht, noch einen Klassenraum zu bauen oder ein weiteres Projekt zu starten. Diese Plätze werden leer bleiben, weil es nicht genug junge Menschen gibt. Recruiting aus Drittstaaten wird notwendig sein. Aber das ist nur eine Maßnahme. Technik, Robotik, Prozessunterstützung und die richtigen Menschen zu begeistern, all das wird es zusätzlich brauchen.
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