Von der Gleislandschaft zum Wohnviertel: Urbanes Wohnen mit Wildnis

Die Bruno-Marek-Allee im neuen Stadtteil Nordbahnviertel.
Genau 34,5 Grad hat es, als ich durch die jüngste Ausbaustufe am Nordbahnhof in Wien-Leopoldstadt spaziere. Der Schatten, den die rund 35 Meter hohen Neubauten hier werfen, sind an Tagen wie diesem willkommen. An dem Augustnachmittag sind vor allem Radfahrer unterwegs, Hunde mit ihren Besitzern, Lieferboten per Rad, Mütter mit Kinderwägen.
Das städtebauliche Leitbild, das hinter dieser Ausbaustufe des Nordbahnhofs steht, fasst Dominik Scheuch, Geschäftsführer von Yewo Landscapes, so zusammen: „Wir trauen uns den Rand etwas zu verdichten, dafür wird der Raum in der Mitte freigehalten.“ Die freie Mitte, die Gleislandschaft und auch die Stadtwildnis wurden bewusst als Naturlandschaft gestaltet und nicht als Parkanlage. Hier gibt es Spielplätze, Flanierwege und grüne Wiesen.

Grüne Mitte im Nordbahnviertel.
„Es ist ein Gewinn der Planung, dass man die Erschließung reduzieren konnte“, so Scheuch. Denn beim ursprünglich geplanten Blockrand hätte es jeweils Straßen rund um die Bauten gegeben, das brauchte man hier nicht. Von der zentralen Bruno-Marek-Allee gehen lediglich einige Einfahrten ab. „Leute, die mit dem Auto hierher kommen, ärgern sich, denn der Nordbahnhof ist eines der ersten Quartiere parallel zur Seestadt, wo man den öffentliche Raum nicht mit Autos vollgestellt wollte“, erzählt Scheuch.
Es gebe lediglich einige Stellplätze entlang der Bruno-Marek-Allee. An vielen Stellen wurde der Durchfahrtsverkehr unterbunden. An Stelle von mehr Parkplätzen wurden in der Bruno-Marek-Allee von Yewo Landscapes riesige – mit Gräsern und Blumen begrünte – Baumscheiben geschaffen sowie breite Flanierstreifen. „Wenn die Bäume ausgewachsen sind, haben wir einen schönen Überschirmungsgrad der Straße“, prophezeit Dominik Scheuch. Doch das wird noch einige Jahre dauern.

Denn kaum geplant und fertiggestellt, ist auch in diesem Viertel einiges verbesserungswürdig, da vor allem aus Sicht der Bewohner mehr gegen die teils zu große Verdichtung getan werden muss. Ziel sei die Verbesserung des Mikroklimas und eine Steigerung der Aufenthaltsqualität durch Entsiegelung, Begrünung und Kühlung. Acht Straßenzüge, unter anderem die Bruno-Marke-Allee, werden ab 2026 klimafit gestaltet. Der Schulvorplatz in der Ernst-Melchior-Gasse wird umgestaltet und erhält Grünbeete, Bäume und eine spezielle, hitzeresistente Pflasterung. Diesen Belag gibt es bereits es etwa schon in der Bruno-Marek-Allee. „Die Gehsteige sind gepflastert mit hellem Betonstein“, sagt Scheuch. Denn dieser reflektiert die Sonne zwar, heizt sich jedoch nicht so auf wie dunkle Flächen, etwa Asphalt.
Was im Nordbahnviertel gelungen ist, ist der Bau von vergleichsweise erschwinglichen, unbefristet vergebenen Mietwohnungen – sowie wie der Fokus auf Mobilität per Rad. Alle Wohnhäuser sind mit teils sehr großzügigen Fahrradräumen ausgestattet – wie zum Beispiel im Wohnhochhaus Schneewittchen.

Wohnhochhaus Schneewittchen mit 100 Metern Höhe in der Taborstraße.
Da gelangt man direkt von der Straße in die Fahrrad-Garage. Hier haben die Bewohner auch die Möglichkeit, einen neuen Reifen zu montieren oder dergleichen, denn ein kleiner Raum wurde für Reparaturen mit allem Nötigen ausgestattet, wie Konrad Stabel, Projektleiter des Bauvorhabens bei der Ersten gemeinnützigen Wohnungsgesellschaft mbH (EWG), bei der Besichtigung zeigt.
Einen kleinen Spaziergang entfernt von hier durch die grüne Wildnis befindet sich das Projekt NB1 der Bauträger Migra und Wogem, an der Ecke Am Tabor/Nordbahnstraße mit 247 geförderten Wohnungen.

Projekt NB1 Am Tabor von Migra und Wogem mit 255 Wohnungen, geplant von querkraft. Viele Wohnungen, mit Supermarkt im Erdgeschoß.
Auf dem begrünten Sockel, der sich wie ein grünes Band bis ins fünfte Geschoß windet, stehen drei Baukörper – einer 30 Meter und zwei 35 Meter hoch. Das 2024 fertiggestellte Wohnhaus, geplant von querkraft Architekten, bietet seinen Bewohnern viele Gemeinschaftsbereiche und auf den Terrassen Freiräume als soziale Treffpunkte. Auf einer der begrünten Ebenen befindet sich ein Kinderspielplatz, auf einer anderer zahlreiche Hochbeete, die gut genutzt werden, wie Scheuch erklärt. Yewo Landscapes plante die Außenräume bei diesem Projekt. Die hängenden Gärten mit Kletterpflanzen an der Fassade verbessern das Stadtklima.
Erinnerungen an den Bahnhofsalltag
Gleisreste, Straßennamen wie „An den Kohlenrutschen“ und der denkmalgeschützte Wasserturm erinnern an den großen Bahnhof, der hier einst war. Der Wasserturm (1890 errichtet) fungierte bis in die 1970er-Jahre als Wasserspeicher für die Dampfloks, schon bald soll hier ein Café einziehen. Auf dem weniger genutzten Bahngelände entstand eine Stadtwildnis, die zum Lebensraum für Tiere und Pflanzen wurde. In den ehemaligen Kohlerutschen wurden Sportplätze errichtet.

Der denkmalgeschützte Wasserturm, daneben: Wohnhaus Leywand von KIBB Immobilien.
Nun wird das Viertel besser an den öffentlichen Verkehr angebunden: Ab Herbst fährt die Straßenbahnlinie 12 zwischen der Endstation Hillerstraße im 2. Bezirk über den 20. und 9. Bezirk bis zur Josefstädter Straße im 8. Bezirk. Dazu werden auf der Vorgarten- und Taborstraße neue Gleise errichtet, ein Teil davon als Grüngleis.
Woran es nun noch mangelt, ist die Bespielung der Erdgeschoßzone. In einigen Neubauten steht diese noch leer, andere Geschäftsmieter sind wieder ausgezogen. „Aber im vergangenen halben Jahr sind viele neue Leute zugezogen“, erzählt Antonia Dika von der Gebietsbetreuung Stadterneuerung, vor allem Familien mit Kindern.

Blick aufs Viertel, Nordbahnstraße im Vordergrund. L-Haus von Rataplan Architektur (2.v.li.) und Sozialbau mit 115 Wohnungen.
Die Stadtteilmanager der Gebietsbetreuung Stadterneuerung bieten unterschiedliche Formate, um Bewohnern von alten und neuen Grätzeln zusammenzubringen. „So haben wir zum Beispiel mit dem Pensionistenklub Energthstraße eine Tour mit Rikscha-Fahrrädern durch das neue Viertel organisiert“, so Dika. Positiv sehen Bewohner auch, dass die Durchgänge nun offen sind, die Wege durchs Viertel dadurch kürzer.
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