„Hotel Mama“: Wann es Zeit ist, die Komfortzone zu verlassen

Mama und Sohn auf der Couch
Erwachsen, aber nicht ausgezogen: Viele junge Österreicher wohnen sehr lange bei den Eltern. Wir haben uns die Gründe angesehen.

Morgens steht der Kaffee dampfend auf dem Tisch, der Wäschestapel ist frisch zusammengelegt, das WLAN läuft verlässlich. Für viele junge Erwachsene in Österreich ist das elterliche Zuhause kein Zwischenhalt, sondern ein Wohnmodell auf Zeit – manchmal mit Rückkehroption. „Hotel Mama“ heißt die Komfortzone, die inzwischen zum gesellschaftlichen Phänomen geworden ist. Aber auch zur Herausforderung: für Kinder wie Eltern. 
„Wann der richtige Zeitpunkt ist, auszuziehen, lässt sich nicht pauschal sagen“, sagt die Wiener Psychologin Sabine Standenat. „Ich kenne Jugendliche, die mit 16 das Elternhaus verlassen haben – weil es dort für sie unerträglich war. Andere wohnen mit Mitte, sogar Ende 20 noch daheim, während sie ihr Studium absolvieren, weil sie noch keinen Job haben oder keine leistbare eigene Wohnung finden.“

Es sei also eine Frage des sozialen Klimas, der finanziellen Möglichkeiten und auch ein Ausdruck von Bequemlichkeit. „Wenn gekocht, gewaschen und aufgeräumt wird, und ein persönlicher Rückzugsraum verfügbar ist, warum sollte man sich dann freiwillig all dem entziehen?“

Massive Unterschiede in Europa 

Tatsächlich ziehen Österreichs junge Erwachsene recht spät von Zuhause aus – zumindest die Männer. Wie Familiensoziologin Christine Geserick vom Österreichischen Institut für Familienforschung (ÖIF) erklärt, liegt das Durchschnittsauszugsalter bei Männern bei 26,1 Jahren, bei Frauen bei 24,4. Damit liegen wir im EU-Vergleich an neunter Stelle (EU27). Schlusslicht ist Kroatien, wo junge Erwachsene erst mit 31,3 Jahren das Elternhaus verlassen. „Es gibt ein klares geografisches Muster. Im Norden Europas verlässt man früher das Elternhaus, im Süden und Osten später“, so Geserick.

Breakfast with rolls, egg, jam, cheese and ham and a cup of coffee, light rustic background with copy space, selected focus

Im „Hotel Mama“ ist das Frühstücksservice oft inklusive.

Töchter verlassen früher das Nest

Dass Töchter früher flügge werden als Söhne, ist kein neues Phänomen. „Dieser Unterschied hat sich über Jahrzehnte gehalten“, sagt die Soziologin. „Warum das so ist, lässt sich empirisch nicht eindeutig erklären“. Der Klassiker: Der Sohn bleibt daheim, bis sich eine feste Partnerin findet. Die Tochter hingegen zieht früher in eine WG oder Studentenwohnung. Dieser Gender Gap könnte sich laut Geserick langsam annähern. 
Für Sabine Standenat sind die Motive vielfältig – und nicht immer rational. „Eine gewisse Angst vorm Erwachsenwerden spielt mit“, sagt sie. „Verantwortung übernehmen, Rechnungen zahlen, sich selbst organisieren – das ist nicht jedermanns Sache.“ Manche scheitern beim ersten Auszugsversuch und kehren zurück: nach einer Trennung, in einer psychischen Krise oder weil das Geld nicht reicht. „Dann wird das Kinderzimmer wieder bezogen – manchmal nur vorübergehend, manchmal auf unbestimmte Zeit.“ „Ich hatte einmal einen Patienten, der mit 44 noch bei seinen Eltern wohnte – trotz gutem Job und finanzieller Unabhängigkeit“, so Standenat. „Das ist dann schon auffällig.“

Rückkehr ist nicht gleich scheitern 

Doch wo endet Loyalität und wo beginnt Abhängigkeit? Die Psychologin differenziert: „Nicht jede Rückkehr ist ein Scheitern. In manchen Familien funktioniert das Miteinander wunderbar. Aber ab einem gewissen Punkt sollte man sich fragen, ob man noch Kind ist – oder längst Erwachsener, der sich hinter dem gewohnten Komfort verschanzt.“ Was bleibt, ist eine emotionale Ambivalenz. Denn während manche Eltern es genießen, dass ihre Kinder länger bleiben, wünschen sich andere mehr Freiheit für sich selbst. 
Ein Streitpunkt ist oft das Geld. Müssen Nesthocker einen Beitrag leisten? „Manche Eltern verlangen gar nichts, andere erwarten sehr wohl eine Beteiligung an den Haushaltskosten“, sagt Standenat. „Vor allem dann, wenn sie selbst nicht viel verdienen.“ Das könne zu Spannungen führen insbesondere, wenn Erwartungen unausgesprochen bleiben.

Woman arriving in new apartment

Frauen ziehen früher aus dem Elternhaus aus.

Dass der Trend zum Bleiben seinen Zenit überschritten hat, zeigt ein Blick in die Statistik. Lebten 2021 noch 18 Prozent der 30- bis 34-jährigen Männer in Österreich im Elternhaus, sind es 14,9 Prozent im Jahr 2024 . Bei Frauen sank der Wert von sieben auf 6,6 Prozent. „Der langjährige Anstieg scheint gestoppt“, sagt Geserick. Die Gründe für die davor anhaltende Entwicklung sind vielschichtig: „Wir schließen unsere Ausbildung später ab, werden später Eltern und stehen später finanziell auf eigenen Beinen.“ Das erste Kind bekommen Frauen heute im Schnitt mit 30,4 Jahren – 1960 waren es noch 24,2. Auch das Heiratsalter hat sich nach hinten verschoben. Kurzum: Die biografischen Entscheidungen junger Menschen finden später statt – das wirkt sich auch auf das Auszugsalter aus.

Die „Generation Boomerang“, also jene, die nach dem Auszug zurückkehrt, existiert auch in Österreich. Geserick: „Statistisch lässt sich das kaum erfassen, aber wir wissen, dass es sie gibt. Nach Studienabschluss, in Phasen der Orientierungslosigkeit oder beim Übergang in den Beruf.“ Hinzu kommen steigende Wohnkosten: „Eine eigene Wohnung ist in Städten wie Wien für viele nicht leistbar“, so Standenat. Wer zu Hause wohnt, spart monatlich bis zu 700 Euro – ein gewichtiger Anreiz. Ist zu Hause bleiben ein Zeichen von Rückständigkeit oder Ausdruck von Ressourcenverwendung? Das ist individuell. Klar ist: Wer länger im „Hotel Mama“ eincheckt, sollte wissen, dass irgendwann der Zimmerschlüssel nicht mehr passt.

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