Nun mussten die Mauern keine tragende Rolle mehr übernehmen, die schlanke Skelettkonstruktion des Eisenbetons ermöglichte weitgespannte Räume mit hoher Traglast. Österreichische Baufirmen entwickelten die Technologie weiter, in kurzer Zeit entstanden bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges viele bedeutenden Bauten, von denen heute in Wien zahlreiche erhalten sind.
Vom Zacherlhaus bis zum Looshaus, vom Residenzpalast über die Zentrale des Wiener Bankvereins bis zum Dianabad. Architekturforscher Otto Kapfinger ist es zu verdanken, dass die Bedeutung dieser Bauphase recherchiert und dokumentiert wurde, er hat rund 160 wegweisende Gebäude in der Studie „Anatomie einer Metropole – Pionierjahre des Bauens mit Eisenbeton, Wien 1890–1914“ untersucht. Seine Forschungsergebnisse sind in der gleichnamigen Publikation gesammelt, herausgegeben von Otto Kapfinger, sie erscheint Anfang Juni 2025.
Hell, luftig, Loft-Struktur: Eines der erhaltenen Gebäude aus dieser Zeit steht in der Neubaugasse 2 in Wien und wurde vom Baumeister Leopold Fuchs errichtet. In den beiden oberen Geschoßen ist das Architekturbüro Henke Schreieck untergebracht, 1982 wurde das erste Geschoß angemietet. „Wir haben das unscheinbare Inserat damals im KURIER gelesen“, erzählen Marta Schreieck und Dieter Henke.
Ein Lottosechser
Schließlich haben sie die Räume angemietet und saniert. „Dann ist uns die Decke auf den Kopf gefallen“, erzählt Marta Schreieck. „Erst dann haben wir den Raum wahrgenommen.“ 1994 wurde das Dachgeschoß dazu gemietet, wo heute das Atelier untergebracht ist. „Es ist ein Lottosechser“, ist sich Schreieck bewusst, obwohl Ablöse zu zahlen war und die Architekten die Räume selbst hergerichtet haben.
Für das Dachgeschoß sei dann mit dem Hausbesitzer, heute ist das die Wlaschek Gruppe, ein Teilwohnrecht vereinbart worden. Dieter Henke über die Vorzüge des Bauwerks: „Es gibt ein natürlich belichtetes Stiegenhaus. Das Besondere sind die Säulen an der Fassade.“
Im Dachgeschoß wird der gesamte Raum nur durch eine Säule getragen, von der ein großer Träger weggeht, zusätzlich gibt es kleinere Träger hin zur Fassade, dazwischen Decken aus Stahlbeton. „Ein hoher Raum mit markanter Dachhaube und Oberlichtern“, so Dieter Henke. Letzteres, um viel Licht hereinzulassen, ist typisch für die Bauten aus der Zeit, ebenso wie die Raumhöhen von – wie hier – 4,5 Metern. Der umlaufende Balkon bietet viel Wohnqualität.
Ob diese Art zu bauen die Architekten inspirierte?
„Natürlich, wir sind Verfechter von Stahl, Beton und Glas, einem Minimum an Material, aber ein Maximum an Raum“, so Dieter Henke. Stahlbeton sei in der Klimakrise in Verruf geraten, weil man seiner Meinung nach nicht richtig damit umgehe und ganze Häuser in Beton errichte.
Ausschließlich die Struktur aus Stahlbeton sei hingegen nachhaltig, da die so geschaffenen Räume flexibel sind. Denn im Laufe der Zeit verändern sich Nutzungen, es sei nachhaltig, dann umbauen zu können. „Alle unsere Gebäude sind so“, sagt Marta Schreieck und verweist auf Planungen für den Erste Campus und die Triiiple Towers. So gebe es etwa im Erste Campus innen keine einzige tragende Wand, alles sei frei bespielbar.
Ausstellung im Wien Museum
Die sehenswerte Ausstellung „Eisenbeton. Anatomie einer Metropole“, vor wenigen Tagen eröffnet, ist bis 28. September im Wien Museum zu besuchen. Sie wurde auf Basis des Forschungsmaterials von Andreas Nierhaus und Eva Maria Orosz kuratiert. Mit Modellen, Plänen, Fotos, Plakaten und Ausstattungsstücken werden zahlreiche Eisenbetonbauten in Wien lebendig.
Kommentare