Balcerowicz: „Orbán ist Kleptokrat, nicht Ideologe“

Balcerowicz: „Orbán ist Kleptokrat, nicht Ideologe“
Der paradeliberale Ökonom, Architekt von Polens Wirtschaftswunder, über die Neo-Diktatoren und Osteuropa.

KURIER: Amazon-Gründer Jeff Bezos hat ungefähr 120 Milliarden Dollar Vermögen. Sie haben Ihre Twitter-Follower gefragt, ob das den Kapitalismus hassenswert macht.

Leszek Balcerowicz (lacht): Das war eine intellektuelle Provokation.

Und, macht es den Kapitalismus verdammenswert?

Natürlich nicht! Die Frage ist: Handelt es sich um einen privaten Unternehmer, den eine Innovation wie Amazon oder Apple reich gemacht hat. Oder um Polit-Günstlinge wie in Russland, die sich selbst bedient haben.

Aber ist das nicht eine gewaltige Fehlallokation, wenn ein Mensch allein über so viel Geld verfügt? Eine Million Menschen würden jeweils 120.000 Dollar sicher ganz anders ausgeben.

Das ist ein Trugschluss. Jemand wie Bezos kann dieses Geld gar nicht ausgeben, deshalb investiert er. Und Investitionen von begabten Unternehmern sind immer besser als von Politikern, die keine Verantwortung tragen. Wer unter dem Sozialismus gelebt hat, weiß das. Im Westen genießen aber einige den Luxus, den Kapitalismus zu kritisieren, während sie selbst im Kapitalismus leben.

Warum betonen sogar der Währungsfonds und die OECD, dass zu viel Ungleichheit der Wirtschaftsentwicklung schadet?

Da gibt es viel Verwirrung. Reden wir über Ungleichheit der Einkommen oder der Vermögen? Oder reden wir über gerecht verteilte Aufstiegschancen – dafür bin ich sofort, das ist eine klassische liberale Idee. Talentierte Menschen sollen ähnliche Chancen haben, ambitionierte Ziele zu erreichen. Völlige Chancengleichheit ist freilich unmöglich, dazu müssten Sie die Familien abschaffen. Und ich würde nicht empfehlen, alle Kinder in Waisenhäuser zu stecken.

Was spricht überhaupt gegen das politische Ziel, mehr Einkommensgleichheit zu fördern?

Es führt zu Willkür. Akzeptiert man das Ziel, dass alle Menschen gleiche Chancen haben sollen, muss man auch in Kauf nehmen, dass ungleiche Einkommen entstehen. Begabte Unternehmer werden immer mehr Geld verdienen als andere.

Viele Menschen beschleicht aber das Gefühl, dass es sich Reiche eher richten können. Zum Beispiel Steuern umgehen.

Ja, das kommt vor – in manchen Ländern mehr als anderen. Wenn zu viele Menschen zu dumm sind, vernünftige Entscheidungen zu treffen, erntet man schlechte Politik. In einer Demokratie gilt: Wenn ihr betrogen werdet, seid ihr selbst schuld. Ein anderer Fall sind Länder wie Russland, Kuba oder Nordkorea, wo die Menschen eingeschüchtert werden.

Wo steht auf dieser Skala von Freiheit und Repression aktuell ihr Heimatland Polen

Was ich Ihnen erzähle, sage ich genau gleich auch in Polen. Seit zwei Jahren bin ich sehr kritisch gegen  die Regierung engagiert. Sie hat das Glück der guten Wirtschaftskonjunktur. Für ein Land ist es immer katastrophal, wenn schlechte Typen großes Glück haben. Das kommt von Zeit zu Zeit vor.

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Das klingt fast so, als könnte man dagegen wenig machen.

Nein, in Polen war das vermeidbar. Unser Ex-Präsident Bronislaw Komorowski war überaus populär, aber seine Wahlkampagne war eine Katastrophe. Deshalb konnte der populistische, aber clevere Herausforderer Andrzej Duda gewinnen. Jetzt haben wir einen Präsidenten, der  eine Marionette der PiS-Regierung (der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, Anm.) ist.

Was ist in Polen seither  geschehen?

Jede autoritäre Regierung probiert, die Justiz zu untergraben, um sich dauerhaft festzusetzen. Wird immer dieselbe Partei gewählt, gibt es aber keine Demokratie mehr. Sie bestechen Teile der Wählerschaft mit Budgetausgaben und Jobs in Staatsunternehmen. Das Dritte ist aggressive Propaganda: Sie kapern die Medien, was vielleicht sogar noch schlimmer als im Kommunismus ist.  Die Regierung ist noch erstaunlich populär, weil die Wirtschaft boomt. Trotz, nicht wegen ihrer Politik – dasselbe gilt für Orbán, dessen Politik noch eine Spur besser ist. Die ultimative Waffe ist dann Einschüchterung. In Putins Russland werden Gegner  verfolgt und beseitigt, um Kritiker mundtot zu machen.

Funktioniert Orbáns unorthodoxe Wirtschaftspolitik nicht besser als erwartet– zumindest für manche Bevölkerungsteile?

Unorthodox ist da gar nichts, er kapert den Staat. Das ist konventioneller Sozialismus, wenn auch nicht in voller Ausprägung. Der Economist hat treffend geschrieben: „Orbán ist kein Ideologe, er ist ein Kleptokrat“. Ideologie ist nur die Maske. Sie können ja schlecht sagen: „Ich regiere, weil ich Geld stehlen will.“ Klingt nicht so gut. Und: Jeder braucht seinen Feind, für Orbán die EU. Er nimmt ihr Geld und attackiert sie.

Und den aus Ungarn stammenden Investor George Soros.

Das ist schamlos. Soros ist ein großer Wohltäter der EU. Und er hat übrigens in den Anfängen Orbán finanziert.

Warum Soros? Wird da mit dem Antisemitismus gespielt?

Natürlich. Diese Leute haben Machthunger, aber keine moralischen Hemmungen, keinerlei Skrupel. Das macht sie gefährlich.

Balcerowicz: „Orbán ist Kleptokrat, nicht Ideologe“

Wir reden immer noch über EU-Mitgliedstaaten. Wie soll Brüssel darauf reagieren?

Wir können nicht von der EU erwarten, unseren Job zu machen. Die Zivilgesellschaft in Polen und Ungarn muss geschlossen auftreten.  Die EU sollte aber im Eigeninteresse aktiv werden. Wenn sie diese eklatante Verletzung ihrer Werte und Verträge toleriert, welche Art von Gemeinschaft ist das? Ein Hohn!  Und es ist ein Hohn, dass die Europäische Volkspartei Viktor Orbán nicht längst rausgeschmissen hat. Das ist schamlos, absolut schamlos. Sie nehmen damit den Vertrauensverlust bewusst in Kauf.

Könnte Geld ein Hebel sein?

Ein Artikel-7-Strafverfahren  (wie es die EU gegen Polen eingeleitet hat) bringt am allerwenigsten, das ist nur ein Politikum. Die EU kann dazu aber nicht schweigen. Einige aktuelle Urteile des Gerichtshofs  lassen ein entschlosseneres Handeln bei Vertragsverstößen zu. Und auch der Währungsfonds könnte ein Vorbild sein: Er macht keine Geldgeschenke, sondern zahlt Kredite in Tranchen aus, je nach Reform-Fortschritt. Dasselbe sollte die EU mit ihren Fördergeldern tun. Das wäre übrigens gar nicht gegen Polen und Ungarn gerichtet, sondern in deren Eigeninteresse.

Ein beliebtes Erklärungsmuster ist, dass die Globalisierung Jobs vernichtet und populistische Parteien ans Ruder gebracht hat. Stimmen Sie dem zu? 

Es gab schon immer am äußersten linken und rechten Rand Gruppen, die gegen die Globalisierung sind. Das ist nicht plötzlich entstanden. Eine große Anti-Freihandels-Tendenz kann ich in Europa beim besten Willen nicht erkennen. Vielleicht in den USA, wegen Präsident Trump – der ist ein besonderer Fall.  Aber sicher nicht in Kanada, Mexiko, China, Japan oder Indien. Selbst Trump legt es, vermute ich, darauf an, bessere Deals zu erreichen, ohne den Handel wirklich zu unterbrechen. Denn darunter würden die US-Farmer ebenfalls stark leiden. Und er mit.

Also war die Globalisierung gar nicht entscheidend für den Aufstieg der Populisten?

Wir müssen unterscheiden, was wir mit Globalisierung meinen: den Warenverkehr, die Finanzströme, die globale Kommunikation? Oder aber die Immigration – das ist sicher der emotionalste Teil, der in Europa die meiste Kritik ausgelöst hat.

Welche Rolle spielte die Immigration?

Durch den massiven Zustrom von Menschen nach Italien, Deutschland, auch Österreich, fühlten sich manche Menschen bedroht. Ich will das nicht moralisch bewerten, kann es aber psychologisch nachvollziehen. Deshalb habe ich großen Respekt vor den Deutschen, die 1,5 Millionen Menschen aufgenommen haben. Auch Österreich und Schweden, anfangs sogar anteilig mehr. Polen hat hingegen überhaupt keine Flüchtlinge aufgenommen. Dafür gab es hasserfüllte Propaganda von offizieller Seite, um die Leute zu überzeugen, dass Flüchtlinge Terroristen sind. Was teilweise gewirkt hat. Das ist moralisch beschämend, noch dazu in einem katholischen Land. Ich nenne sie nur noch antichristliche Katholiken!  Dasselbe gilt für Orbán, dessen Anti-Flüchtlingspropaganda teilweise sogar noch zynischer agiert.

Viele Polen verweisen darauf, dass das Land viele Ukrainer  aufgenommen habe.

Das stimmt, aber da werden die Themen vermischt.  Ich rede von Flüchtlingen.

Wir haben kurz die Politik von US-Präsident Trump gestreift. Ihr Urteil?

Ich halte Trumps Rhetorik für schlimmer als die Substanz seiner Politik. Was nicht heißt, dass ich diese insgesamt verteidige. Aber die Rhetorik ist wirklich schändlich. Die Steuerreform an sich wäre gut für das Wachstum, vor allem wenn sie mit Ausgabenkürzungen einherginge – was nicht der Fall ist. Trump versucht auch mehr Deregulierung zu erreichen. Meine Hauptsorge gehört der Handelspolitik und der Einwanderung, die  für politische Zwecke missbraucht wird. Da wurden Trump aber von den Gerichten Grenzen aufgezeigt. Das System von "Checks and Balances" funktioniert also.

Worauf zielt der Handelsstreit mit China ab?

Trump sieht das vermutlich als Duell, bei dem man sich am Ende einigt. Er will, dass die Chinesen den US-Firmen keine Technologie mehr abpressen. Was ja wirklich passiert – aber dagegen sollte koordiniert vorgegangen werden. Stattdessen bedroht er die EU ebenfalls!  Das ist ein miserabler Stil. Sollte er von den Chinesen am Ende Zugeständnisse erreichen wollen, muss es nicht in ein Desaster münden. Wenn er hingegen einen globalen Handelskrieg vom Zaun bricht, dann schon. Ich würde es nicht ausschließen, die Gefahr besteht. Es wäre ein Desaster. Ich kann mir aber ebenso vorstellen, dass eine Lösung mit wechselseitigen Zugeständnissen gefunden wird.

Trump will immer kurzfristige Triumphe präsentieren können. Was könnte das sein?

Ich glaube, symbolische Zugeständnisse würden ausreichen. Die Chinesen müssten ebenfalls einen Deal präsentieren können.

Österreichs Regierung ist gerade auf Staatsbesuch in China...

Ja, das habe ich gehört, gar keiner mehr da. (lacht)

Will China einen Keil in die EU treiben? Bei den 16+1-Treffen sind nur Osteuropäer dabei...

Das ist viel eher Russlands Ziel, über die Internet-Aktivitäten, mit „Putin-Verstehern“ (auf Deutsch, Anm.). Die Chinesen brauchen gar keine aggressiven Ziele, sie gehen davon aus, dass sie den USA auch so über den Kopf wachsen werden. Aber ich würde das nicht als gegeben ansehen, dass wirtschaftlich alles glatt laufen wird. Wenn ich an die Explosion von Krediten  denke ....

Könnte es so laufen wie bei Japan? Vor einigen Jahrzehnten hatten Viele geglaubt, niemand könnte Tokios Vormarsch stoppen. Dann platzte die Blase, eine Schuldenkrise war die Folge, an der Japan bis heute zu nagen hat.

Ich würde es zumindest nicht ausschließen. Viel zu viele Leute glauben, dass China sich über alle wirtschaftlichen Gesetze hinwegsetzen und sich alles erlauben kann.

Woher kommt die eigentümliche Bewunderung auch westlicher Ökonomen für Chinas Weg?

Weil viele von ihnen den freien Markt verachten. Deshalb werden auch immer neue Formen angeblichen Marktversagens erfunden. Chinas Erfolg beruht aber ganz und gar nicht auf staatlicher Intervention, sondern auf dem Gegenteil, der Zurücknahme des Staates und Ausweitung ökonomischer Freiheit. Ich wäre dennoch vorsichtig. Der Staatseinfluss ist immer noch groß, ohne die hohe Sparrate gäbe es größte Probleme, gewisse Wachstumspotenziale sind weitgehend ausgeschöpft. Die Alterung schreitet wegen der Ein-Kind-Politik rasch voran, das war ein noch nie dagewesenes Experiment.

Was ist aus Ihrer Sicht die Neue Seidenstraße? Ein geostrategisches Machtinstrument?

Darüber weiß ich zu wenig. Ich habe aber eine gewisse Skepsis gegenüber großen Ideen von Diktatoren. Die Kosten sind ihnen in der Regel egal.

Wie soll man mit Diktaturen umgehen? Wir haben EU-Sanktionen gegen Russland, deren Wirkung umstritten ist. Jetzt gibt es neue US-Sanktionen.

Keine Sanktionen würde heißen, dass man die Aggression stillschweigend duldet. Wenn man nichts gegen einen aggressiven Akt unternimmt, akzeptiert man diesen. Und fordert weitere Aggression heraus. Die besten Sanktionen sollten treffsicher sein. Putins Günstlinge sind da ein gutes Ziel, wenn man sie stoppen - oder zumindest zum Nachdenken über die nächsten Schritte zwingen will.

Das Paradoxon ist: Putin hängt wirtschaftlich mittlerweile von den USA ab, weil  sie den für ihn entscheidenden Preis kontrollieren: jenen für Öl. Und das ist durch privates Initiative und Innovation zustande gekommen, nämlich den Boom in der Förderung von Schieferöl und Schiefergas.

 

Zur Person

Keine Frage, Leszek Balcerowicz polarisiert: Der 71-jährige liberale Wirtschaftswissenschaftler und Politiker hat Polen nach der Wende als Vize-Premier und  Finanzminister eine Radikalkur vom Kommunismus hin zur freien Marktwirtschaft verordnet (1989 bis 1991 sowie 1997 bis 2000).

Diese sogenannte „Schocktherapie“ hat dem Hayek-Anhänger neben viel Bewunderung auch heftige Kritik gebracht. Von 2000 bis Anfang 2007 war Balcerowicz Chef der polnischen Nationalbank. Er lehrt an der Warsaw School of Economics.  Polen steuerte als einziges EU-Land ohne ein Rezessionsjahr durch die Krise.

Balcerowicz trat am 10. April in Wien als Hauptredner beim 9. Grow-East-Kongress auf, der von der Wirtschaftsuniversität Wien (Kompetenzzentrum Emerging Markets, Mittel- und Osteuropa) gemeinsam mit der Denkfabrik Neusicht und Wirtschaftskammer veranstaltet wurde.

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