Was hat die Österreicher in den 1970er-Jahren bewegt?
Der Klammer steht ja in einer Reihe von anderen Skihelden. Beginnend mit Sailer, der ein typischer Wiederaufbauheld nach dem Weltkrieg war. Dann kam Schranz, der auch noch ein bisschen was von der verbissenen 1950er-Jahre-Ethik in sich trägt. Der Klammer sticht da heraus, weil er ein Sonnenkind der 1970er-Jahre ist.
Wie meinen Sie das?
In dieser Zeit war der wirtschaftliche Aufschwung voll im Gang, es war eine Zeit von Wohlstand, Vollbeschäftigung und Optimismus, in der Mode gab es helle, bunte Farben. Das Leben schien unbeschwert. Und das verkörpert der Klammer in einer unheimlich guten und authentischen Art. Man muss sich nur die Bilder in Erinnerung rufen. Den Schranz hat man praktisch nie lachen gesehen, während der Klammer, salopp gesagt, eigentlich immer lacht. Das scheint auf den ersten Blick nebensächlich, ist aber eine zentrale Botschaft.
Stand Klammer also für ein unbeschwertes Österreich?
Klammer hat das glückliche Österreich repräsentiert. Im Land war Optimismus zu spüren gewesen, die materielle Basis wurde gesichert, es schien zum ersten Mal ein hedonistisches Leben für viele möglich. Und dann gibt es beim Klammer noch eine zweite Erzählung, die bei den Leuten ankommt.
Nämlich?
Die Forschung nennt das „Golden-Success-Story“: Das Bergbauernkind, das von ganz unten kommt, sich mit Fleiß und Arbeit ganz nach oben arbeitet – das ist jetzt zwar nicht besonders originell, aber dieses Erzählmuster funktioniert immer. Der Klammer ist aber nicht nur ein Bergbauernkind, er ist außerdem noch so ein unschuldiges Bergbauernkind.
Ein unschuldiges Bergbauernkind?
Genau. Und da verdichten sich die Narrative, die ganz tief im österreichischen Bewusstsein und Unterbewusstsein eingeschrieben sind. Nämlich: Der Österreicher, der mit seiner Neutralität unschuldig sein will, unbedarft, fröhlich, eine Äquidistanz zu allem hat und von allen geliebt werden möchte – das ist ein Muster, über das der Klammer funktioniert. Da bringt er etwas zum Ausdruck, das diese Zweite Republik in einem großen Maß ausmacht.
Bei Klammers Gold-Fahrt 1976 am Patscherkofel stand das öffentliche Leben still, und ganz Österreich war vor dem Fernseher. Hat auch die Macht der Bilder seinen Status begründet?
Die damalige Mediensituation ist sicher ganz bedeutend bei Klammer. Erstens einmal durch das Alleinstellungsmerkmal des ORF, der praktisch der einzige Sender war. Es hat noch nie vorher in der Geschichte des Skilaufs und des Sports in Österreich eine so große Medienaufmerksamkeit auf ein singuläres Ereignis gegeben. Diese Patscherkofelabfahrt von 1976 ist sicher einer der ganz, ganz großen magischen Momente in der österreichischen Sportgeschichte. Es ist wirklich damals das ganze Land vor dem Fernseher gesessen. Das war vorher nie so und danach auch nie mehr.
Würde ein Typ, eine Persönlichkeit, wie Franz Klammer heute denn auch noch funktionieren?
Jede Epoche hat ihre eigenen Figuren. Weil jeder Epoche ihre eigenen Werte und Emotionen wichtig sind. Ob Klammer heute funktionieren würde, ist gar nicht so leicht zu beantworten.
Warum?
Weil man zuerst einmal erörtern müsste, was in der heutigen Gesellschaft die zentralen Themen sind. Wir haben eine zersplitterte Mediensituation, es gibt nicht mehr so ein homogenes Publikum. Insofern würde es für Klammer sicher nicht mehr so einfach gehen, weil er nicht mehr so viele Leute erreicht und emotionalisiert. Solche flächen- und generationsübergreifenden Events wie etwa die Samstag-Abend-Shows haben sich erledigt. Es gibt Soziologen, die die These vertreten, dass wir im postheroischen Zeitalter angelangt sind. Dass die Zeit der Helden vorbei ist. Andererseits ...
Andererseits?
Andererseits gibt es schon einen Hunger nach Helden, nach vermeintlich starken Führerfiguren. Die Trumps, Orbáns oder die Selenskijs dieser Welt. Diese handeln mit realen Krisenszenarien, während Sportler und Sportlerinnen ja nur künstlich erzeugte Gefahrensituationen bewältigen. Man hört auch oft: Es braucht Figuren und Typen. Einen Djokovic merkt man sich, auch wenn er in gewisser Weise ein Anti- oder ein Trotzheld ist. Diese Muster funktionieren immer noch. Flächendeckend für das ganze Volk wird es schwieriger.
Sailer, Klammer, Maier, Pröll – warum sind in Österreich die Skifahrer so populär?
Damit man von der Masse bewundert und geliebt wird, ist es von Vorteil, in einem Sport unterwegs zu sein, der alle begeistert. So entstehen große Erregungsgemeinschaften. Und Skifahren ist in Österreich bei aller berechtigten Kritik im Winter einfach die Nummer 1. Das ist tief verankert in der Identität von vielen Menschen. Das halbe Land lebt davon, viele Leute wissen noch immer, was ein Berg- und ein Talski ist und durch Tausende TV-Übertragungen, wo man eine Hundertstelsekunde verliert. Skifahren ist halt eine der wenigen Sportarenen, in denen Österreich so etwas wie Weltgeltung hat. Man darf das auch nicht ironisieren. Das ist eine unglaubliche Kulturleistung. Ob und wie es gelingt, diese gewachsene Kultur an die riesigen Herausforderungen der kommenden Jahre anzupassen, das wird die entscheidende Frage.
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