Marathon-Rekorde dank Wunderschuhen: Gefahr oder Segen für Hobbyläufer?
Laufen ist der einfachste Sport der Welt. Schuhe anziehen und los geht’s! Aber welche Schuhe? Spätestens bei dieser Frage wird der simpel anmutende Laufsport zur hochkomplexen Querschnittsmaterie aus Biomechanik, Physik, Medizin und Sportwissenschaft.
Selbst ambitionierte Hobbyläufer rätseln und tüfteln bei der Wahl des richtigen Materials, nicht selten riskieren sie dafür einen Blick auf die Füße der Weltbesten. Und bei der Elite gab es zuletzt einiges zu sehen.
Innerhalb von zwei Wochen wurden die Marathon-Weltrekorde bei Männern und Frauen nicht nur unterboten, sondern regelrecht pulverisiert. Erst drückte die Äthiopierin Tigist Assefa in Berlin die Marke auf 2:11:53 Stunden, vergangenen Sonntag lief dann Kelvin Kiptum aus Kenia als erster Mensch einen offiziellen Marathon in weniger als zwei Stunden und einer Minute (2:00:35).
Die Antwort darauf, warum die Weltbestenlisten derzeit in Windeseile umgeschrieben werden, ist komplex. Die berüchtigten 42,195 Kilometer gelten in erster Linie noch immer als großer Test für Körper und Geist, doch eine Antwort darauf findet sich auch viel weiter unten, bei den neuen „Superschuhen“.
Diese neuartigen Modelle eroberten zuletzt die Laufstrecken von Wien bis Winnipeg und werden trotz Reglementierung durch den Leichtathletik-Weltverband (maximale Sohlenhöhe 39,5 Millimeter) immer weiter perfektioniert. Es handelt sich dabei um federleichtes Schuhwerk mit Spezialschaumstoffen und eingearbeiteten Carbonplatten.
Wunderschuhe mit großem Nutzen und Risiken
Während Letztere einen Katapulteffekt auslösen, sorgen die dicken Sohlen dafür, dass die Muskeln weniger Sauerstoff verbrauchen und dadurch weniger rasch ermüden. Nahezu alle Läufer, ob auf Weltklasseniveau oder im Amateurbereich, schwärmen nach ersten Versuchen von den Tretern. Laut einer Studie aus Deutschland waren im Vorjahr bereits 15 Prozent der Hobbyläufer damit unterwegs.
Der Fortschritt ist im wahrsten Wortsinn unaufhaltsam, gebremst wird er jedoch von anderen Studienerkenntnissen. Es zeigt sich, dass die neuen „Superschuhe“ nicht nur maßgebend die Zeitlisten verändern, sondern auch den Laufstil. Ein Umstand, der mittelfristig vor allem Hobbyathleten ohne sportmedizinische Rundumbetreuung vor Probleme stellen könnte. Durch den Aufbau der neuartigen Schuhe kommt im Bein den Sehnen und Bändern weniger Bedeutung zu, was zur Folge hat, dass diese Körperteile anfälliger werden für Verletzungen.
„Die Schuhe verändern Kräfte, die auf den Fuß wirken. Wenn Kräfte anders wirken, dann werden bestimmte Strukturen anders belastet als vorher“, sagt dazu Karsten Hollander, ein Professor für Sportmedizin in Hamburg und Teamarzt der deutschen Leichtathleten, im Nachrichtenmagazin Der Spiegel.
Laut Untersuchungen ist im Schnitt jeder zweite Hobbyläufer zumindest einmal im Jahr verletzt. Eine Vielzahl der Blessuren ist zwar weiterhin auf schlechte Technik oder mangelhafte Trainingssteuerung zurückzuführen, das Schuhwerk dürfte die Situation aber zusätzlich noch verschärfen.
Topmodell kostet 500 Euro
Für die Hersteller ist die individuelle Rekordsucht des Menschen ein Glücksfall. Jährlich werden rund 15 Milliarden US-Dollar für Laufschuhe ausgegeben, weshalb die Konzerne um die Stars der Szene buhlen. Während Kelvin Kiptum auf Nike-Sohlen zum Rekord getragen wurde, lief Tigist Assefa im Adidas-Produkt zur Fabelzeit. Freudig und werbewirksam hielt sie anschließend den Wunderschuh in die Kameras der Weltöffentlichkeit.
Anders als bei vielen anderen Sportgeräten ist der keine Einzelanfertigung. Laut Weltverband muss jedes Modell, das von einem Spitzenläufer bei einem offiziellen Marathon getragen wird, auch von anderen Menschen gekauft werden können. Den Rekordschuh gibt es im offiziellen Online-Shop um 500 Euro. Besser gesagt: Gab es. Die Erstauflage von 521 Stück war rasch vergriffen. In sündteure gebrauchte Modelle sollte man nicht investieren. Der Katapulteffekt verfliegt nach etwa 200 Kilometern.
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