Das Blue Hole in Ägypten zieht unzählige Taucher an. Nicht alle überleben es, denn das Loch gilt als gefährlichster Tauchspot der Welt. Herbert Nitsch war der erste, der es mit nur einem Atemzug durchtauchte. Doch auch er wäre beim Tauchen schon fast ums Leben gekommen.
Sie nennen ihn den Totentaucher. Tarek Omar mag diese Bezeichnung eigentlich nicht, „andererseits ist es genau das, was ich tue. Ich hole die Leichen nach oben.“
Omar ist groß gewachsen, schlank und heute 59 Jahre alt. Er kennt „jeden Stein und jeden Fisch im Blue Hole“, das als gefährlichster Tauchspot der Welt gilt. Es liegt an einer Felsenbucht nördlich des ägyptischen Urlaubsortes Dahab. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber Schätzungen zufolge sollen seit Mitte der 1980er-Jahre mehr als 300 Menschen ihr Leben dort gelassen haben. Meistens Männer. Gedenksteine an der Felswand erinnern an sie. Etwa an den 22-jährigen Russen Yuri Lipski, der im Jahr 2000 traurige Berühmtheit erlangte, weil er mit einer Unterwasserkamera unfreiwillig seinen eigenen Tod filmte. Omar barg seine Leiche. Das Video des verzweifelten jungen Mannes anzusehen, dessen Tarierweste auf über 90 Metern Tiefe zerplatzte, fällt ihm heute noch schwer. Auch der österreichische Taucher Karl Marx fand hier seinen Tod, er verunglückte im Jahr 2007. Oder der 24-jährige Brite James Paul Smith. "Don't let fear stand in the way of your dreams", das ließ sein Vater auf den Gedenkstein schreiben. “Angst soll deinen Träumen nicht im Weg stehen”.
Omar sagt, er weiß nicht mehr, wie viele Leichen er schon hoch getaucht hat. Nicht wenige würden für immer am Meeresgrund liegen bleiben, denn es sei nicht leicht, die gesunkenen Körper ab einer gewissen Tiefe zu finden. In den Neunzigern war er das erste Mal unten, um Angehörigen einen toten Sohn zu übergeben. Seither ist er der Totentaucher, der daraus allerdings kein Geschäft machen möchte, sondern lediglich die Kosten für das Gasgemisch in der Tauchflasche berechnet.
Blaue Dunkelheit
Das Blue Hole ist ein Loch im Saumriff direkt an der Küste. Es misst knapp 80 Meter Durchmesser und verengt sich wie ein Trichter nach unten in die blaue Dunkelheit. In ungefähr 52 Metern Tiefe öffnet sich seitlich ein Torbogen – der Eingang zu einem 26 Meter langen Tunnel, der zum offenen Meer führt. In diesem Tunnel fällt der Boden stufenweise abwärts, zuletzt bis 800 Meter. Unerfahrene Taucher, so Omar, wären deshalb dort oft zu tief und folglich Richtung Meeresboden unterwegs. „Und das wird vielen zum Verhängnis.“
Der Tiefenrausch kann zu Wahrnehmungsstörungen, kurzfristiger Euphorie und daraus resultierenden Fehleinschätzungen, Krämpfen, Zucken, Schwindel oder gar zu Bewusstlosigkeit führen. Der narkotische Effekt des Stickstoffs soll pro 15 Metern Tauchtiefe etwa der Wirkung eines starken alkoholischen Getränks entsprechen, daher auch der Name Tiefenrausch oder Martini-Effekt. Bereits bei 40 Metern können erste Symptome auftreten. „Der Eingang zum Tunnel liegt also weit darunter.“
Manche Taucher würden die 52 Meter problemlos erreichen, allerdings unterschätzen sie oft die Dauer, die sie im Blue Hole in der Tiefe bleiben müssen. Wenn es im Notfall darum geht, den Tauchgang abzubrechen und schnell aufzutauchen, ist der Weg nach oben im Tunnel versperrt. Omar leitet „Tek Tribe“, die erste Tauchschule für technisches Tauchen beim Blue Hole, er selbst hat dort eine Tiefe von 226 Metern erreicht. „Da geht es um Leben und Tod.“
Das weiß auch Herbert Nitsch. Der Wiener ist der erste dokumentierte Mensch, der das Blue Hole mit nur einem Atemzug durchtaucht hat. Denn im Gegensatz zu Tarek Omar taucht Nitsch ohne Geräte. Über neun Minuten lang kann er die Luft anhalten. Der heute 53-Jährige gilt für viele als der beste Apnoetaucher der Welt, er hält 33 Weltrekorde im Freitauchen und trägt den Titel: Deepest Man on Earth. Er taucht in die Tiefe mit Flossen, Monoflosse, Schlitten, mit einem Stein beschwert oder zieht sich völlig aus eigener Kraft an einem Seil hinab und wieder hinauf. In jeder Freitauch-Kategorie hält er einen Rekord.
Nitsch erinnert sich gerne an das Jahr 2003 zurück. „Für mich war das Blue Hole in Ägypten ein absolutes Novum. Denn den meisten Leuten ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass dies für einen Freitaucher ein sehr ungewöhnlicher Tauchgang ist. Weil man vertikal tief taucht, dann horizontal und dann wieder vertikal auftaucht.“ Nitsch beschreibt die Erfahrung als überwältigend, nicht beängstigend. „Es sind unbeschreibliche Eindrücke, die man bekommt, wenn man sich dort in der Tiefe umsieht. Egal, in welche Richtung man blickt, es ist wunderschön. Schaut man von drinnen Richtung Ozean, ist da dieses riesige Loch, das sich auftut und sich ins blaue Unendliche erstreckt.“
Fast ums Leben gekommen
Alleine bei der Gedankenreise in den Unterwassertunnel verspüren viele Menschen aufsteigende Panik und Angst. Doch Nitsch entspannt gerade dort. Das Wasser ist sein Element. Der Tauchgang im Jahr 2003 hat ihm so gut gefallen, dass er im Jahr 2005 noch einmal nach Dahab gekommen ist. „Zwei Jahre später habe ich es allerdings andersherum gemacht. 2003 hatte ich das Blue Hole nämlich von außen nach innen durchtaucht, weil die innere Seite überschaubarer ist. Also vom offenen Roten Meer durch den Tunnel hinein in das Blue Hole.“
Dazu wurden von Sicherheitstauchern zwei Seile an den Öffnungen vertikal angebracht, die in der Tiefe mit einer Leine verbunden waren. „Ich bin verkehrt herum mit dem Bauch nach oben geschwommen, um das Seil nicht aus den Augen zu verlieren und um auch nicht gegen die Felswände zu stoßen.“
Warum das Blue Hole in Ägypten als gefährlichster Tauchspot gilt, ist für ihn leicht erklärt. „Um in den Tunnel zu gelangen, muss man eine Tiefe erreichen, die bereits weit über dem Limit von Sporttauchern liegt. Je weiter man aber über dieses Limit kommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass man die Kontrolle verliert.“ Die beeindruckende Unterwasserwelt des Blue Hole könnte für manche zudem irritierend wirken. „Dass man sieht, wie stark der Boden abfällt, verleitet dazu, tiefer zu tauchen“, erklärt auch Nitsch. „Dann bekommen sie Tiefenrausch oder haben zu wenig Luft, um den Aufstieg zu verlangsamen, damit sie die Dekompressionskrankheit vermeiden.“
Nitsch weiß genau, was das bedeuten kann. Sein herausragendster und letzter Rekord war auch jener, auf den er sich monatelang akribisch vorbereitet hatte – und der ihn fast das Leben gekostet hätte. Im Mai 2012 reist er nach Santorin, um dort einen Monat später seinen eigenen Rekord von 214 Metern Tiefe zu brechen. Eine speziell für ihn angefertigte stromlinienförmige Schlittenkonstruktion, die wie eine gelbe Rakete aussieht, wird ihn so schnell wie möglich hinab in die dunkle Eiseskälte befördern und nachher auch wieder hinauf zur Wasseroberfläche. Nitsch, früher Berufspilot, hat selbst an der Entwicklung des Tauchgefährts gearbeitet.
Für den Körper bedeutet die Tiefe eine massive Belastung. Schon ab wenigen Metern können die Ohren schmerzen. Der Wasserdruck belastet das Trommelfell. Im schlimmsten Fall kann es reißen. Das Zwerchfell schiebt sich von unten nach oben. Je tiefer Nitsch taucht, desto höher wird der Druck. Da er ohne Atemgerät unter Wasser ist, wird seine Lunge mit der Tiefe immer weiter zusammengepresst. Am Schluss ist sie so groß wie ein Pfirsich. Die mit Luft gefüllten Stellen im Körper – also etwa Mund, Stirnhöhlen, Nebenhöhlen – werden massiv gequetscht. „Den Druck spürt man als geübter Freitaucher auf den Extremitäten nicht. Aber in den Hohlräumen sehr wohl, wenn man ihn nicht ausgeglichen hat. Ohne Druckausgleich kann man nicht tiefer tauchen.“
Enorme Entspannung
Die gelbe Rakete landete am 6. Juni 2012 schließlich auf 253 Metern in der Tiefe. Doch am Weg hinauf zur Wasseroberfläche passierte etwas, das zuvor beim Freitauchen noch nie passiert war. „Beim Auftauchen bin ich kurz eingeschlafen. Das ist wohl geschehen, weil der Tiefenrausch gepaart mit enormer Entspannung auf mich eingewirkt haben. Das zusammen hat mich müde gemacht. Zu müde.“ Der Schlitten stoppt automatisch auf 26 Metern Tiefe, und Nitsch wacht auf. Die Sicherungstaucher vermuten einen Notfall und bringen ihn zur Oberfläche, wie es auch üblich ist. „Ich habe noch versucht, nach dem Seil zu greifen, um den geplanten einminütigen Dekompressionsstopp einzuhalten. Aber ich konnte das Seil nicht richtig greifen und sehen, weil die Maske verrutscht war. Folglich war ich viel zu schnell oben – ohne den wichtigen Stopp.“
An der Wasseroberfläche angekommen, weiß Nitsch, dass es jetzt um Leben und Tod geht. Mit Sauerstoff bestückt, taucht er so schnell wie möglich wieder unter und harrt aus. Doch nach 15 Minuten setzt die gefürchtete Dekompressionskrankheit bei ihm ein. Dabei bildet der unter erhöhtem Druck im Blut und Gewebe gelöste Stickstoff bei Druckabfall Gasbläschen, was verheerende Folgen haben kann. Nitsch erlitt mehrere Schlaganfälle.
Kein Adrenalinausstoß
Dass er heute noch lebt und Interviews geben kann, grenzt an ein Wunder. Bilder aus der Zeit im Krankenhaus zeigen ihn an Schläuchen hängend, verwirrt, die Augen können nicht fokussieren. Das Sprechen ist nicht möglich. Sein Arzt prophezeite ihm ein Leben im Rollstuhl und als Pflegefall. Suizidgedanken kamen bei ihm auf. Doch er wollte das nicht wahrhaben und beschritt seinen eigenen Weg, der nicht immer dem Ratschlag der behandelnden Mediziner folgte. „Es hat ein Jahr gedauert, bis es mir besser ging. Mein Gedächtnis war weg. Ich erkannte meine Freunde und Familie nicht, hatte schwere Sprachstörungen.“ Auch heute noch hat Nitsch Probleme mit der Körperbalance, der Koordination und beim Artikulieren. „Aber unter Wasser ist wieder alles wie vorher, das ist das Wichtigste für mich.“ Wie sieht sein Leben heute aus? „Wir reisen viel, ich freitauche immer noch überall auf der Welt und filme unter Wasser. Aber Wettkämpfe absolviere ich nicht mehr.“
Luft anhalten
Nitsch sagt, jeder Mensch könne innerhalb einer Woche – mit entsprechendem Training – die Zeit des Luftanhaltens verdoppeln oder sogar verdreifachen. „Solch einen schnellen Fortschritt gibt es in keinem anderen Sport.“ Er betont, dass es beim Freitauchen weniger darum geht, viel Sauerstoff zu sich zu nehmen. Es gehe vielmehr darum, wenig zu verbrauchen. „Vor der Tiefe Angst zu haben, das darf nicht passieren. Das frisst zu viele Ressourcen. Jeder auch noch so kleine Adrenalinausstoß ist kontraproduktiv. Man muss entspannt sein, sonst vergeudet man Sauerstoff. So entspannt wie am Sonntag in der Früh, wenn man aufwacht und sich noch einmal umdrehen kann, weil man nicht aufstehen muss. Dieser Zustand ist schwierig zu erreichen, aber genau das macht gute Freitaucher aus.“
Die wichtigste Regel: „Niemals alleine tauchen, immer eine Person dabei haben, die weiß, was sie tut. Also andere Freitaucher, um einander zu kontrollieren.“ Dies beachtet, sei Freitauchen sicherer als viele andere Sportarten. „Man kann sich unter Wasser schließlich nicht die Haxen brechen“, sagt Nitsch und lacht.
Das Blue Hole in Ägypten war zuletzt auch Inhalt einer neuen Netflix-Dokumentation mit dem deutschen Titel "Der tiefste Atemzug”. Darin wird die Freitaucherin Alessia Zecchini u.a. bei ihrem Versuch begleitet, den Tunnel zu durchtauchen. “Die Tiefe des Wassers fasziniert mich, wie nichts anderes. Dort unten, das ist für mich der schönste und stillste Ort der Welt”, sagt sie darin. Und bereits Luc Bessons Kultfilm “Le Grand Bleu” zeigte im Jahr 1988 die Tiefsee als zauberisches Universum. Auch Tarek Omar, der Totentaucher von Dahab, spricht vor allem fasziniert von der Ruhe, die man in der Tiefe spürt. Für ihn liegt die Gefahr des Blue Hole in erster Linie in der Selbstüberschätzung der Menschen. “Oft verwenden sie die falsche Ausrüstung und sind von ihrem Ego getrieben.”
Omar weiß nicht, wie lange es dauert, bis die nächsten Angehörigen ihn bitten werden, einen toten Menschen heraufzuholen. Er macht das spätestens am zweiten Tag nach dem Verunglücken, sonst sehe die Leiche zu schlimm aus. Wegen des Wassers und der Krebse. Wenn Omar unten angekommen ist, sucht er maximal fünf Minuten nach dem Körper. Sieht er ihn nicht, taucht er hoch und versucht es ein zweites Mal an einer anderen Stelle.
Bis 150 Meter, sagt er, findet er die Toten aber immer.
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