Filzmaier: "Der unpolitische Fußball als gefährliche Lebenslüge"
Peter Filzmaier spricht über Fußball wie über Politik: Präzise, flott und gerne auch pointiert. Der 53-jährige Professor für Politikwissenschaft, der regelmäßig im ORF Österreichs Politik in all ihren Verrenkungen erklärt, ist Laufsport-Experte und Fußballfan.
KURIER: Ihr Berufswunsch war Sportjournalist. Welche war für Sie bisher die stärkste Geschichte dieser EM?
Peter Filzmaier: Neben der sportlichen Dramaturgie ist politisch viel mehr passiert, als wir uns gewünscht hätten: von Rassismus-Fällen wie gegen Mbappé in Budapest bis hin zum UEFA-Verhalten bei der Regenbogen-Frage.
Ist es die politischste EM?
Es ist die EM, bei der es am stärksten bewusst wird – und das finde ich gut so. Rassismus und Homophobie gab es früher auch, aber es wird stärker thematisiert. Der unpolitische Fußball ist eine gefährliche Lebenslüge, auch für die UEFA. Das nutzt nur jenen nicht-demokratischen Autokraten, die den Fußball instrumentalisieren wollen.
Gehen wir die verschiedenen Fälle durch. War das Verhalten der UEFA bei der Regenbogen-Frage im Münchner Stadion mehr als ein Kommunikationsdesaster?
Ja, es war ein inhaltliches Versagen. Es gibt ein Minimalkriterium: Die UEFA muss politisch für das eintreten, was im eigenen Statut steht. Da werden drei Punkte erwähnt: Frieden, Völkerverständigung und gegen jede Form von Diskriminierung vorzugehen. Wenn ich die Diskriminierung ausnehme, um mich als unpolitisch darzustellen, mache ich mich komplett unglaubwürdig. Zudem war es ein kommunikationsstrategisches Desaster, das zum Streisand-Effekt geführt hat: Durch das Verbot hat die Aktion noch viel mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Glauben Sie, dass bei der FIFA mit Blick auf die WM 2022 in Katar bereits die ersten Krisensitzungen laufen?
Wenn nicht, hält die FIFA einen Sommerschlaf: In Katar geht es nicht nur um Alltagsdiskriminierung, sondern dort kann man für Homosexualität fünf Jahre ins Gefängnis gehen. Selbstverständlich müsste das bei der Vergabe der Turniere bedacht werden. Warum wird dafür nicht ein Demokratie-Index, etwa von Freedom House, als ein Kriterium herangezogen? Es würde trotzdem noch genug Veranstaltungsorte geben, die auch die Demokratiekriterien erfüllen.
Als Christian Eriksen einen Herzstillstand erlitt, bildeten die Mitspieler einen Kreis, um TV-Kameras zu blocken. Was vermittelt dieses Bild?
Wir erleben ein Fernseh-Event, die Macht der Bilder ist entscheidend: Die Copa América ist nicht schlechter, aber wir sehen davon keine Bilder. Das geht nur im Guten wie im Schlechten. Wenn wir die 100. Zeitlupe des Schusses ins Kreuzeck sehen wollen, ist die Gefahr groß, dass auch solch eine Tragödie öfters in Zeitlupe gezeigt wird. Ich finde, die Medien haben – so wie die Spieler – an sich richtig reagiert. Es hat keine Endlosschleifen gegeben.
Ihre ORF-Kollegin Anna-Theresa Lallitsch hat nach einiger Zeit gemeint: „Es gibt jetzt nichts zu sagen“ ...
... und das habe ich richtig gefunden. Noch dazu, weil sie so wie die meisten TV-Kommentatoren in ihrem Heimatland gesessen ist. Es gab keine verfügbare Extra-Info.
Würden Sie sich bei politischen Vorfällen auch manchmal wünschen, einfach schweigen zu dürfen?
Es gibt Parallelen – ich denke an die Wiederholungen des Ibiza-Videos. Wenn sich ein Politiker durch eine Handlung eindeutig disqualifiziert hat, erreiche ich einige Zeit danach auch mit dem bemühtesten Kommentar keine zusätzlichen Menschen mehr, um sie davon zu überzeugen.
In Österreich sorgte die Sperre von Marko Arnautovic für große Aufregung. Im „Standard“ ist ein Leserbrief von Österreichs Ex-Botschafter in Nordmazedonien erschienen. Seine Einschätzung war, dass am Balkan Sprache anders verwendet wird und es keinen Grund für ein Einschreiten der UEFA gab.
Das ist politische Kommunikation nach ihren schlechtesten Mustern. Was eine Beleidigung ist, hat der Empfänger und nicht der Absender – oder in diesem Fall der Botschafter – zu entscheiden. Das sind Methoden, die aus der Politik kommen, die wir im Sport aber nicht übernehmen wollen. Was auch nicht geht, war der Hinweis des ÖFB, Arnautovic wäre provoziert worden. Eigenes Unrecht darf nicht mit dem des anderen aufgerechnet werden.
Was schließen Sie daraus?
Hier hat die UEFA ordentlich reagiert – so wie auch Arnautovic. Er hat sich für sein Fehlverhalten entschuldigt, seine Sanktion abgesessen und auch tätige Reue gezeigt. Das wäre alles abgehakt gewesen, wenn nicht vom Fan bis hin zum ÖFB noch nachgekartet worden wäre.
Der Videoschiedsrichter hält sich stärker zurück als in den Ligen mit VAR. Wie empfinden Sie das?
Da bin ich eine gespaltene Persönlichkeit: Als Fan will ich den emotionalen Torjubel und durchaus auch den Streit danach, ob das Tor hätte zählen dürfen. Als Wissenschafter will ich so viele Fehler wie möglich ausgebessert wissen. Ich finde, dass ein guter Mittelweg gefunden wurde, weil nicht jedes mögliche Detail untersucht und der Spielfluss zerstört wird: Und zehn Minuten nach Spielende erfahren wir dann, wie es ausgegangen ist (lacht).
Was bisher nicht zum Aufreger wurde, sind die enormen Belastungen: Die Spieler haben seit dem ersten Lockdown ein Jahr durchgespielt. Wäre Ihnen beim Spiel Corona-Müdigkeit aufgefallen?
Die Aufstockung der Kader auf 26 Mann war ein Sicherheitsnetz für Covid-Fälle, hilft aber auch, um Belastungen auszugleichen. Ansonsten vermute ich, dass sich überspielte Profis auf viele Mannschaften aufteilen. Wenn es wie früher bei der Sowjetunion einen Block von Dynamo Kiew mit acht, neun Spielern geben würde, wäre klarer zu sehen, ob ein Team körperlich überfordert ist.
Sie sind Barcelona-Fan und kennen die Sportpresse. Teamchef Enrique hat keinen Spieler von Real einberufen. Hätte er nochmals nach Madrid kommen dürfen, wenn auch das dritte Spiel Spaniens sieglos geendet wäre?
Katalanen werden immer alles tun, damit ihnen der Fußball nicht spanisch vorkommt. Und Madrilenen werden jeden Barcelona-Spieler im Nationaldress als Irrtum der Geschichte betrachten. Dieser Konflikt ist für keinen Teamchef zu lösen. Es gibt dafür nur eine Lösung: Wenn so wie von 2008 bis 2012 alles gewonnen wird!
Zum Abschluss: Sie haben 22.000 Follower auf Twitter, obwohl sie „nur“ über Sport twittern. Wie oft waren Sie knapp davor, doch etwas Politisches zu schreiben?
Mir ist bewusst, dass sicher die Mehrheit meiner Follower nur darauf wartet, dass endlich etwas Politisches kommt. Aber ich bin nicht in Gefahr: Twitter ist für mein Hobby da, das ist der Sport.
Die Politik
Peter Filzmaier (geboren am 5.9. 1967 in Wien) ist Professor für Demokratiestudien und Politikforschung an der Donau-Uni Krems und für Politische Kommunikation in Graz. Der Familienvater stieg im ORF zum Chef-Analytiker für österreichische Politik auf, ist Kolumnist der Kronenzeitung und Autor von Sport-Büchern.
Der Sport
Der talentierte Läufer (Halbmarathon-Zeit 1:12 Stunden) musste nach einer Krankheit kürzertreten. Geblieben ist die Liebe zum FC Barcelona. In Österreich war der Wiener „Fan von Innsbruck, jetzt bin ich es in Ruheposition: Gerade als ich mich dem nach dem Finanzskandal dem Wacker wieder angenähert hätte, bricht wieder einer aus.“
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