EM-Titelverteidiger Portugal: Mehr als nur Ronaldo
Hinter der Landes-Ikone Cristiano Ronaldo tummelt sich eine Phalanx an Weltklasseleuten, angeleitet vom erfahrenen Teamchef Fernando Santos (66), der wie zehn seiner verbliebenen Spieler 2016 den historischen ersten großen Titel mit der Selecao gewann. Ein Stotterstart wäre unverzeihlich, es gilt die "Todesgruppe" F in der Reihenfolge Ungarn, Deutschland, Frankreich zu überstehen.
"Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine so extrem harte Gruppe gesehen zu haben", meinte Santos, nicht ohne selbstbewusst zu ergänzen: "Portugal kann es mit allen Teams mit Titelambitionen aufnehmen." Nach medialem Corona-Störfeuer infolge des Spanien-Tests verlief die Generalprobe am Mittwochabend mit einem 4:0 gegen Israel dominant, aber nicht tadellos: "Es gibt sicherlich vieles zu verbessern", sagte Santos und packte nach der Peitsche das Zuckerbrot aus: "Jetzt lasst uns rasten und in Ruhe vorbereiten. Dieses Team hat einen großen Willen und einen ausgezeichneten Teamgeist."
Als einer von wenigen hatte sich der Trainer im Vorfeld des späteren Coups in Frankreich aus der Deckung gewagt und den Titel als Ziel ausgegeben. Warum also etwas ändern: "Das Ziel ist der Europameistertitel", bekannte Santos im portugiesischen Staatsfernsehen vor wenigen Tagen. "Ich packe meinen Koffer für einen Monat, auch die Zigaretten."
Die EM-Titelverteidigung ist bisher nur dem erfolgreicheren Nachbarn Spanien (2008, 2012) gelungen. Mit Blick auf den Kader ist dies auch Portugal zuzutrauen. Die Offensivabteilung ist möglicherweise neben jener Frankreichs die beste aller Teilnehmer - dazu gehören neben Ronaldo etwa Bernardo Silva (Manchester City), Joao Felix (Atletico Madrid), Diogo Jota (Liverpool), Andre Silva (Frankfurt) oder Bruno Fernandes (Manchester United).
Die Defensive gibt dem seit September 2014 werkenden Santos ebenso wenig Anlass zur Sorge: Mit Ruben Dias von Manchester City steht der offiziell beste Spieler der Premier League der Innenverteidigung vor; die Außenverteidiger Joao Cancelo (ManCity) und Raphael Guerreiro (Dortmund) gelten als verlässlich; und die Oldies Pepe (Porto) und Jose Fonte (Lille) sowie der etwas jüngere Joao Moutinho (Wolverhampton) sollen, wenn nicht auf dem Spielfeld, dann abseits davon als Ruhepole kraft ihrer Routine wirken.
Kapitän genießt Freiheiten
Dies könnte notwendig sein, sollte Santos die Rollen und Einsatzzeiten seiner Offensiv-Armada ungenügend organisieren. Eine Stammplatz-Garantie gab es im Vorfeld selbst für Ronaldo nicht. Natürlich aber genießt der Kapitän (fast) alle Freiheiten. "Cristiano ist keiner, der aus defensiver Sicht viel in die Mannschaft einbringt", sagte Santos. "Das wollen wir auch gar nicht. Das war immer der Fall und das Team weiß das. Ronaldo verschafft uns Respekt beim Gegner und schießt Tore."
Dass es auch ohne Ronaldo funktionieren kann, bewies die Selecao im Endspiel 2016 gegen Frankreich, in dem ihr Superstar früh verletzt ausschied. Eder sprang als One-Hit-Wonder mit dem Goldtor in der Verlängerung in die Bresche. Davor hatten die Portugiesen nur eines ihrer sieben Spiele nach regulärer Spielzeit gewonnen, man erinnere sich an das 0:0 gegen Österreich.
Geglänzt hat Portugal auch auf dem Weg zur anstehenden EM nur selten. Als Zweiter der Qualifikationsgruppe hinter ÖFB-Gruppengegner Ukraine gelangen dem Nations-League-Gewinner in acht Spielen fünf Siege (22:6 Tore). Die Hälfte aller Treffer - darunter sieben gegen Litauen - erzielte dabei doch wieder Ronaldo, der ein persönliches Projekt erfolgreich vorantrieb: Mit 104 Toren im Team-Dress fehlen ihm nur noch fünf auf den internationalen Tor-Rekord des früheren iranischen Stürmers Ali Daei. Den Meilenstein hat Ronaldo schon länger im Visier, 2019 meinte er: "Alle Rekorde müssen gebrochen werden und diesen werde ich übertreffen."
Dem 36-Jährigen gehört vor seinem neunten Großturnier nicht mehr die Zukunft, doch im Rekorde-Sammeln läuft der Mann von der Insel Madeira weiter auf Anschlag. Schon ein Tor würde ihn zum erfolgreichsten EM-Torschützen aller Zeiten vor Michel Platini (9) machen. Ronaldos 21 EM-Auftritte sind bereits vor dem Auftakt der paneuropäischen Veranstaltung am Freitagabend einsamer Rekord.
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