Elf Jahre vor meiner Geburt erlebte meine Mutter 1972 in München eine der größten Tragödien im olympischen Sport live mit. Als Sportlerin, als Speerwerferin. 1968 hatte sie in Mexiko die Bronzemedaille gewonnen, doch vier Jahre danach überschattete der Terror alles. Anlässlich des 50. Jahrestages des Anschlags hatte ich das Bedürfnis, genauer nachzufragen bei meiner heute 77-jährigen Mutter. Wie war denn das damals? Wenn ich schon mit einer Zeitzeugin bei Kaffee und Kuchen am Tisch sitzen kann ...
Marc Janko: Mama, welche Erinnerung hast du an die Olympischen Spiele?
Eva Janko: Es war eine Tragödie. Insgesamt durfte ich ja an drei Olympischen Spielen teilnehmen, 1968 in Mexiko City, 1972 in München und 1976 in Montreal. Schon im Vorfeld der Spiele in Mexiko gab es Unruhen und Wirbel, bei den Wettkämpfen selbst blieb es dann ruhig. Dann kam München. Und die Folge waren dann die Hochsicherheitsspiele in Montreal.
Wie war damals die allgemeine Stimmung bei den Spielen in München?
Deutschland hat absichtlich die heiteren Spiele inszeniert, ganz bewusst. Weil man ja 1936 in Berlin die Spiele in einer Diktatur gehabt hatte. Die Polizei hatte großteils keine Uniformen, sondern nur blaue Anzüge an, die Beamten trugen grundsätzlich keine Waffen. Jeder sollte sich frei fühlen und bewegen können, das war dann das Hauptproblem. Niemand wurde kontrolliert, man wusste oft nicht, ob jemand da im olympischen Dorf sein durfte oder nicht.
Wie war das möglich?
Im Nachhinein haben wir uns auch gefragt, wie man nur so leichtsinnig hatte sein können. Viele Sportler haben das Dorf verlassen und waren in München unterwegs. Spätabends oder in der Nacht sind sie dann über den Zaun geklettert. Wir waren jedoch im Frauendorf, gleich daneben, doch etwas abgeschirmt und unter uns.
Und wie habt ihr von der Geiselnahme erfahren?
Ich bin aufgewacht, da haben wir die Nachricht von unseren Betreuern erfahren. Die Geiselnahme hatte ja in der Nacht stattgefunden. Es war nicht weit von unserem Quartier entfernt, Luftlinie vielleicht 50 oder 100 Meter. Wir haben dann im Laufe des Tages die vermummten Geiselnehmer auf dem Balkon sehen können.
Hast du von den israelischen Sportlern jemanden gekannt, bzw. hast du sie im olympischen Dorf getroffen?
Nein, selbst habe ich niemanden gekannt. Aber sehr wohl haben wir im selben Speisesaal gegessen all die Tage davor.
Wart ihr alle dann in Schockstarre?
Wir waren auf alle Fälle beunruhigt. Mein Bewerb war zu diesem Zeitpunkt schon vorbei, somit musste ich mich auf keinen Wettkampf mehr konzentrieren. Wir haben alle gehofft, dass die deutsche Polizei die Situation in den Griff bekommen wird. Aber unterm Strich haben sie es vermasselt und sich dilettantisch verhalten. Man hat ja auch die Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst nicht so recht angenommen.
Ich kenne nur die Fernsehbilder. Damals hat man die Geiselnahme praktisch live miterleben können.
Das war das Unglaubliche. TV-Stationen aus der ganzen Welt waren vertreten, und viele haben sich in den Wohnungen vis-à-vis einquartiert und live übertragen. Es hat keine Kontrolle gegeben. Wir haben von unserem Quartier gesehen, wie sich Polizisten auf dem Dach in Stellung gebracht haben. Das konnten aber auch die Terroristen im Fernsehen mitverfolgen. Es war dilettantisch.
Die Spiele mussten weitergehen. Wie hast du dich damals gefühlt?
Wie gesagt, ich hatte keinen Wettkampf mehr, daher war das für mich persönlich kein Problem. IOC-Präsident Brundage hat den legendären Satz ‚The games must go on‘ geprägt, Israels Ministerpräsidentin Golda Meir machte klar, dass man sich nicht erpressen lasse. Wir Sportler hatten die Gedenkfeier im Olympiastadion. Die unmittelbare Gefahr bestand nicht mehr, daher musste es jetzt weitergehen. Zumindest kann ich mich erinnern, dass dann diese Stimmung vorherrschte.
Konnten deine Kollegen und Kolleginnen in Folge noch Leistungen bringen?
Daran kann ich mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern.
Hattest du schon damals das Gefühl, etwas Historischem beizuwohnen?
Nein, so habe ich das sicher nicht gedacht. Für einen Sportler sind Olympische Spiele an und für sich etwas Historisches. Dass das Ganze solche Ausmaße annimmt, damit habe ich nicht gerechnet und auch sonst niemand.
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