Van der Bellen und Bierlein: „Establishment? Wer soll das sein?“

Alexander Van der Bellen hatte Brigitte Bierlein zur ersten Bundeskanzlerin gemacht. Gemeinsam stellten sie sich im Vorfeld des Tags der Verfassung Fragen zu Kompetenzen des Bundespräsidenten.
KURIER: Am 1. Oktober ist wieder Tag der Verfassung. Wie zeitgemäß ist diese Grundlage für unsere Demokratie noch?
Brigitte Bierlein: Diesen Tag feiert der Verfassungsgerichtshof in Erinnerung an die Beschlussfassung der Konstituierenden Nationalversammlung über das B-VG am 1. Oktober 1920. Das B-VG ist in den vergangenen 100 Jahren vielfach novelliert worden – nicht zuletzt etwa durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Die Rolle des Bundespräsidenten, wie wir sie heute kennen, wurde durch die B-VG-Novelle 1929 begründet. Seither gibt es die Direktwahl durch die Bürgerinnen und Bürger, bis dahin hat die Bundesversammlung den Präsidenten gewählt. Unsere Verfassung bewährt sich im Kern bis heute, sie gibt den Rahmen für staatliches Handeln und die Spielregeln für unser Zusammenleben vor. Sie ist stabile Grundlage unserer liberalen Demokratie.
Manche würden sich ja die Entscheidung durch die Bundesversammlung zurückwünschen. Auch mit dem Argument, dass staatstragende Parteien keine Kandidaten mehr aufstellen.
Alexander Van der Bellen: Da sehe ich keinen Grund dafür. Gerade die direkte Wahl durch die Österreicherinnen und Österreicher gibt dem Bundespräsidenten eine besondere Position und Verantwortung. Ein Standing gegenüber der Öffentlichkeit und auch ein Standing gegenüber Ministern und Parlament.
Bierlein: Der Grund, die Wahl der österreichischen Bevölkerung zu überlassen, war, dass man einen Ausgleich zum Parlamentarismus schaffen wollte.
Was im Wahlkampf diskutiert wird, sind die Kompetenzen des Bundespräsidenten. Fast schon regelmäßig verkünden Kandidaten, dass sie als erste Tat die Bundesregierung entlassen würden.
Bierlein: Nach der Verfassung gibt es sogar die Möglichkeit, dass der Bundespräsident den Kanzler oder die gesamte Bundesregierung – nicht aber einzelne Minister – ohne Vorschlag entlassen kann. Das ist allerdings noch nie geschehen, und zwar aus gutem Grund. Er müsste eine neue Regierung ernennen, der ein Misstrauensvotum seitens des Nationalrats drohen würde.
Ihnen, Herr Bundespräsident, wird ja manchmal der Vorwurf gemacht, Sie hätten bei den vielen Kanzlerwechseln zu viel zugeschaut und nicht durchgegriffen.
Van der Bellen: Ich habe, bevor die türkis-blaue Bundesregierung angelobt wurde, signalisiert, dass ich zwei Persönlichkeiten nicht als Innen- oder Außenminister angeloben würde. Der Kanzler macht einen Vorschlag, was die Minister betrifft. Vorschlag heißt, dass ich nicht jede Person akzeptieren muss. Allerdings ist es in der Praxis besser, schon im Vorfeld zu signalisieren, hier würde ich ein Veto einlegen, bevor man einen öffentlichen Konflikt zwischen Kanzler und Bundespräsident hat.
Noch einmal zu den Kanzlerwechseln in der ÖVP. Muss da nicht ein Bundespräsident härter eingreifen und sagen, das geht ja nicht?
Van der Bellen: Österreich ist eine parlamentarische Demokratie und der Wille geht vom Volke aus. Die Bundesverfassung gibt uns bestimmte Spielregeln vor. Ein System von Checks und Balances zwischen dem Parlament, der Regierung, dem Bundespräsidenten. Bei aller Schönheit der Verfassung muss man auch berücksichtigen, dass diese Spielregeln mit Bedacht, mit viel Pflichtgefühl und mit Verantwortungsbewusstsein anzuwenden sind. Die Bundesverfassung ist nicht die beliebige Spielwiese des Bundespräsidenten.
Einige Parteien hätten gerne Neuwahlen …
Van der Bellen: Derzeit wird spekuliert, dass der Bundespräsident der einzige ist, der Neuwahlen durchsetzen kann. Er müsste nur die Bundesregierung entlassen und gleichzeitig ein neue nach seinem Belieben einsetzen. Mit dieser müsste er dann vereinbaren, dass sie sofort nach der Angelobung die Auflösung des Nationalrats vorschlagen muss. Das – finde ich – ist ein gefährliches Spiel.
Warum?
Van der Bellen: Das wäre ein offener Konflikt zwischen Parlament und Bundespräsident. Und ich erinnere nochmals: im Parlament sitzen die Abgeordneten, die demokratisch gewählten Volksvertreter, und die entscheiden, ob sie einer Regierung das Misstrauen aussprechen oder eben ihre Arbeit unterstützen. Und noch ein Hinweis zu diesen Zündeleien im Wahlkampf: Wir leben nicht in beliebigen Zeiten. Wir haben eine Kumulierung von Krisen wie Pandemie, Ukraine-Krieg, Energieknappheit oder Teuerung, deren Lösung jede Aufmerksamkeit erfordert. In so einer Situation dafür zu sorgen, dass es über Monate keine handlungsfähige Regierung gibt, entspricht jedenfalls nicht meinem Amtsverständnis. Wir brauchen Stabilität und Sicherheit in diesen stürmischen Zeiten. Mit Österreich spielt man nicht.

Van der Bellen und Bierlein im Gespräch mit KURIER Innenpolitik-Chef Martin Gebhart.
Während der Corona-Pandemie wurde über die Spaltung der Gesellschaft diskutiert. Mit welcher Sorge hat diese Entwicklung der Bundespräsident verfolgt?
Van der Bellen: Grundrechtsfragen sind immer mit besonderer Umsicht zu beurteilen, aber die Dramatik rund um die Impfpflicht habe ich für überzogen empfunden. Die Impfung schützt ja nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch seine Umgebung, mit der er in Kontakt tritt. Bedenken hatte ich bezüglich der Administrierbarkeit, die habe ich aber aus Rücksicht auf die ohnehin hitzige Debatte für mich behalten. Insofern war ich erleichtert, als die Impfpflicht wieder aufgehoben worden ist. Und ich hoffe, dass wir wieder zu unserer guten Tradition zurückkommen, nämlich, dass „beim Reden die Leute zusammenkommen“ und wir das Gemeinsame über das Trennende stellen.
In dieser Zeit ist etwas aufgetaucht, das durch die neuen Krisen noch verstärkt wird: der Widerstand gegen das Establishment, wie es beschrieben wird.
Van der Bellen: Der Aufgeregtheitspegel ist auf jeden Fall gestiegen, eine laute Schlagzeile jagt die andere. Diese angebliche Diskussion um das Establishment kann ich aber nicht nachvollziehen. Wer oder was soll das sein und wer bestimmt, wer zum Establishment und wer zum Volk gehört? Ich jedenfalls fühle mich zum Volk gehörig. Ich war mein Leben lang ein Außenseiter, auch bei der Wahl 2016. Was ich aber sehr gut verstehe, sind die Emotionen der Bürgerinnen und Bürger, die Sorgen und Ängste, zum Beispiel die Teuerung betreffend. Und da ist der Frustrationspegel zu Recht gestiegen. Wir müssen darauf schauen, dass niemand mit diesen Sorgen alleingelassen wird. Hier ist die Bundesregierung gefordert, laufend die richtigen Lösungen zu finden und diese auch verständlich zu kommunizieren.
Dass der Zusammenhalt in der Gesellschaft nicht so funktioniert, merkt man auch an der Verrohung der Sprache, meist in den sozialen Netzwerken.
Bierlein: Es erfüllt mich mit Sorge. Nicht nur in den sozialen Medien, so scheint es, haben Aggressionen stark zugenommen. Ich bedaure das sehr. Es mag die Anonymität im digitalen Raum sein, die dazu verleitet. Diese Verrohung halte ich für gefährlich. Allen sollte bewusst sein, dass Kompromissfähigkeit und Dialogbereitschaft in der Demokratie unabdingbar sind. Die Gesellschaft ist gefordert, dieser Entwicklung entschieden entgegenzuwirken.
Sie haben gefordert, dass die Parteien im Untersuchungsausschuss einander mit mehr Respekt begegnen sollen. Wurde diese Anregung befolgt? Der Eindruck ist eher ein anderer.
Van der Bellen: Untersuchungsausschüsse sind ein wichtiges Instrument parlamentarischer Kontrolle und brauchen eine entsprechende Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Deshalb habe ich darum gebeten, einander mit mehr Respekt zu begegnen. Es ist niemandem damit gedient, wenn Politiker sich gegenseitig runtermachen. Das fällt ja dann auf alle zurück. In diesem Sinne: Sprache schafft Realität und gerade Politiker müssen sich immer ihrer Vorbildfunktion bewusst sein.
Bierlein: Der häufig respektlose Umgang untereinander wirft ein schlechtes Licht auf die Parlamentarier insgesamt. U-Ausschüsse sind wichtige demokratische Instrumentarien der Kontrolle des Parlaments. Der derzeit laufende Ausschuss ist allerdings kein Ruhmesblatt für das Parlament.
Frau Bierlein, geben Sie eigentlich auch eine Wahlempfehlung für die Bundespräsidentenwahl ab?
Bierlein: Nein, ich glaube, das kann und muss jeder und jede in der Demokratie selbst entscheiden. Ich mache von meinem Wahlrecht – wie hoffentlich jede Staatsbürgerin und jeder Staatsbürger – Gebrauch. Wichtig ist, dass man das Wahlrecht wahrnimmt. Ich habe den Herrn Bundespräsidenten stets als sehr wertschätzend, fair und vorausschauend erlebt. Es war eine sehr professionelle, menschlich angenehme Zusammenarbeit.
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