Systemsprenger in Wien: Warum Österreich bei kriminellen Kindern so hilflos ist

Justizanstalt Wien
Unbelehrbare Intensivtäter sorgen für Ausschläge, nicht nur in der Kriminalstatistik. Wegsperren ist derzeit nicht möglich, Karner kann sich "Zwangsaufenthalte" vorstellen.

Donaustadt, helllichter Tag, direkt vor einer U-Bahnstation. Ein 43-jähriger Mann wird am Heimweg von einer Bande drangsaliert, bespuckt und schließlich mit einem Klappmesser niedergestochen. Der Grund: Er hatte die Burschen im Alter von 13 bis 18 Jahren in der U-Bahn aufgefordert, ihre Musik leiser zu drehen.

Die Attacke ereignete sich Mitte Juni. Die Polizei hatte die Täter schnell ausfindig gemacht. Die Burschen aus Syrien und dem Irak – fast alle wegen Eigentumsdelikten und Körperverletzung amtsbekannt – waren vorbereitet. Sie schoben die Schuld auf den 13-jährigen Unmündigen in der Gruppe. Festgenommen wurde niemand. „Wir haben die Möglichkeit, minderjährige Verdächtige anzuhalten, mitzunehmen und zu befragen“, betont Polizeisprecherin Julia Schick. Nach der Messerattacke im 22. Bezirk erfolgten Anzeigen auf freiem Fuß.

Anzeigen verdoppelt

Anzeigen, die dann in der Kriminalstatistik aufscheinen – und auf den ersten Blick schockieren: Bei den Unmündigen unter 14 Jahren verdoppelten sich innerhalb eines Jahres die angezeigten Delikte auf nun 12.049. Also ausgerechnet bei jener Gruppe, die die Polizei nicht strafen kann – und das wissen die Verdächtigen in aller Regel.

Christoph Koss vom Bewährungshilfeverein Neustart gibt zu bedenken, dass Anzeigen nicht mit Verurteilungen gleichzusetzen sind: „2015 wurden 1.806 Personen unter 18 Jahren verurteilt, 2024 waren es 1.543. Das ist ein Rückgang um fast 15 Prozent.“ Bis zu einer Verurteilung gelte die Unschuldsvermutung, Schuldsprüche seien die „harte Währung“. Der Anstieg der Anzeigen hänge auch mit gestiegener Anzeigenbereitschaft und polizeilichen Schwerpunktaktionen zusammen. Der Großteil der Jugendkriminalität betrifft Einbruchsdiebstähle, einige wenige Intensivtäter machen auch vor Gewalt nicht Halt. Wer glaubt, dass sich diese auf einschlägig bekannte Parks in Favoriten beschränkt, irrt.

Zuletzt sorgten Berichte über raubende, mit Pistolen und Schlagringen bewaffnete Jugendbanden in den Bezirken Währing und Döbling für Verunsicherung. In Wien, das als Hotspot junger Straffälliger gilt, hat die Polizei deshalb mit Experten einen Fünf-Punkte-Plan ausgearbeitet, der der Prävention und Vernetzung dienen soll. Wenn diese Maßnahmen nicht fruchten, ist sogar die temporäre Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen im Gespräch.

Denn um Kinder festzuhalten, fehlt derzeit die gesetzliche Grundlage. Eine mögliche Lösung für dieses Problem hat den mehr als sperrigen Namen „Normverdeutlichungsgespräche“. Es geht darum, und so steht es auch im Regierungsprogramm, dass auch nicht strafmündige Jugendliche zu einem Gespräch geholt werden, um ihnen die Rechtslage und die Konsequenzen ihres Verhaltens klarzumachen: „Wir haben im Regierungsprogramm vereinbart, dass es dieses verpflichtende Gespräch mit den Eltern oder dem Vormund geben muss, um klarzumachen, was unsere Regeln sind, was verboten ist. Und wenn dem nicht nachgekommen wird, gibt es Strafen dafür“, erklärt Innenminister Gerhard Karner – gestraft werden freilich die Erziehungsberechtigten.

Was derzeit erlaubt ist

Das Thema heißt eigentlich: Deliktsfähigkeit. Unser Rechtssystem sagt, dass nur bestraft werden kann, der versteht, dass er ein Verbrechen begeht. Unter 14 Jahren ist das jedenfalls nicht der Fall, sagt das Gesetz. Jugendliche unter 14 Jahren sind also nicht deliktsfähig. Aber es können Erziehungsmaßnahmen gesetzt werden, wie beispielsweise die Unterbringung in einer betreuten Wohngemeinschaft.

Innenminister Karner: „Es gibt Möglichkeiten, die Kinder zwar nicht einzusperren, aber polizeilich anzuhalten, etwa durch ein neues Heimaufenthaltsgesetz.“

Also sollen die Minderjährigen auch in der Nacht ihre Unterkunft nicht verlassen können? „Ja, das ist eine gefängnisähnliche Unterbringung.“ Die Strafmündigkeit, bekräftigt der Innenminister, liege in Österreich bei 14 Jahren, und eine Änderung sei im Regierungsprogramm nicht vorgesehen.

Karner beruft sich auf das Regierungsprogramm, das vorsieht, das Heimaufenthaltsgesetz „hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Ausgangsbeschränkungen“ zu überarbeiten. Zudem sind spezialisierte sozialpädagogische Wohngemeinschaften der Kinder- und Jugendhilfe geplant, mit der Option „eng befristeter Zwangsaufenthalte“. Die Freiheitsbeschränkungen sollen dabei durch Pflegschaftsrichterinnen und -richter überprüft werden.