„Volle“ Berufung
Rückblick: Sebastian Kurz und sein ehemaliger Kabinettschef Bernhard Bonelli wurden wegen Falschaussage im U-Ausschuss zu acht bzw. sechs Monaten bedingter Haft verurteilt. Im Kern ging es um die Frage, ob Kurz seine Rolle bei der Einrichtung der Staatsholding ÖBAG sowie bei der Besetzung von Vorstand und Aufsichtsrat korrekt geschildert hat.
Kurz empfand das Urteil als „sehr ungerecht“; er und Bonelli meldeten volle Berufung an. Und „voll“ heißt „voll“ – in jeglicher Hinsicht.
Das schriftliche Urteil lag Mitte Mai vor und hat rund 90 Seiten, zusätzlich gab es ein Protokoll der zwölf Verhandlungstage mit rund 1.200 Seiten. Die WKStA hat gegen die Teilfreisprüche (Kurz war in nur einem von drei Anklagepunkten verurteilt worden) zwar keine Rechtsmittel eingelegt, aber Korrekturen im Protokoll angeregt, ebenso die Verteidiger Otto Dietrich und Werner Suppan. So weit, so üblich.
Allerdings gab es von Verteidigerseite Hunderte Korrekturen, die – vorsichtig ausgedrückt – nicht unbedingt urteilsrelevant waren. Beanstandet wurden dem Vernehmen nach Tippfehler oder einzelne Formulierungen. Etwa, wenn „Staatsanwalt“ im Protokoll stand, es aber „Staatsanwaltschaft“ heißen musste. Oder wenn eine Zeitangabe einer Tonbandaufnahme nicht sekundengenau gestimmt hat.
Kurz’ Verteidiger Dietrich, der als äußerst beflissen und korrekt gilt, stieß sich auch daran, dass manche Stellen von der Schriftführerin sinngemäß wiedergegeben wurden und nicht wortwörtlich.
Gröbere Diskrepanzen sah Dietrich bei den Aussagen eines russischen Zeugen. Zur Erinnerung: Richter Michael Radasztics war damals in der Verhandlung dazu übergegangen, selbst auf Englisch mit dem Zeugen zu sprechen, weil der Dolmetscher nicht alles zu übersetzen schien.
Radasztics war es auch, der nun jeden Korrekturwunsch im Protokoll prüfen musste. Er bewilligte viele Anträge, aber nicht jeden – was in einigen Fällen dazu führte, dass die zweite Instanz entscheiden musste. Auch das dauerte.
Man kann also sagen: Kurz schöpfte die Mittel des Rechtsstaats voll aus. Selbiges gilt für die Fristen. Als am 18. Oktober der letzte Beschluss zur Protokollkorrektur fiel und das Urteil erneut zugestellt wurde, sollte er mitteilen, ob es bei den bereits eingebrachten Rechtsmitteln bleibe. Am 15. November – exakt nach Ablauf der vierwöchigen Frist – teilte die Verteidigung mit, dass es keine Ergänzung mehr geben werde.
600 Seiten Berufung
Damit ging der Akt ans Oberlandesgericht Wien, wo er jetzt geprüft wird. Alleine das Lesen dürfte einige Zeit dauern. Die schriftliche Ausführung der Rechtsmittel von Kurz’ Verteidiger Dietrich hat rund 150 Seiten (600 Seiten inklusive Beilagen).
Zur Relation: Die von Karl-Heinz Grasser in der Buwog-Causa eingebrachten Rechtsmittel umfassen 270 Seiten (ohne Beilagen). Verteidiger Dietrich, der dort auch einen Beschuldigten vertrat, legte 454 Seiten vor. Der Buwog-Prozess hatte drei Jahre gedauert, das erstinstanzliche Urteil war 1.200 Seiten lang. Bei Kurz waren es zwölf Verhandlungstage und das Urteil hatte rund 90 Seiten.
Hört man sich in Juristenkreisen um, ob ein derartiger Aufwand im Instanzenzug „normal“ sei, lautet die Antwort: nein. Das Delikt der Falschaussage gebe das nicht her. Aber was ist schon „normal“, wenn ein Ex-Kanzler verurteilt wird? Noch dazu einer, der die letzten Jahre seiner Amtszeit mit der Justiz im Clinch lag und sich durch sein Strafverfahren von selbiger „politisch verfolgt“ fühlt.
Im nächsten Schritt dürfte das OLG (wann auch immer) eine öffentliche Berufungsverhandlung ansetzen und über die Rechtsmittel entscheiden. Es sei denn, der Senat beschließt in einer nicht-öffentlichen Sitzung, dass das Urteil mangelhaft ist und an das Erstgericht zurückverwiesen werden muss. Dann geht alles von vorne los.
Kommentare