Christoph Leitl: „Habe schon als Dreißigjähriger erfahren, wie das Leben plötzlich enden kann“

Christoph Leitl macht kein Hehl daraus, dass er sich über normalisierte Beziehungen zu Russland nach dem erhofften Kriegsende freuen würde.
KURIER: Sie sind in die Geschichte eingegangen mit dem Satz, dass Österreich „abgesandelt“ ist. Zwölf Jahre später stimmt das nun leider so richtig, oder?
Christoph Leitl: Ich will das weder beklagen noch resignieren. Schauen wir lieber an, was andere Länder besser machen! Aufgeigen statt absandeln! Die Schweizer haben als liberalstes Wirtschaftsland der Welt in die Energieregularien eingegriffen und dadurch eine Explosion der Inflation verhindert. Die Dänen machen eine sensationelle und faire Arbeitsmarktpolitik: zu Beginn hohe Ausgleichszahlungen, aber dann muss man Arbeit annehmen, sonst gibt es massive Abschläge. Die Schweden haben beim Pensionsantrittsalter das Referenzalter 65. Wer länger bleibt, kriegt tolle Anreize. Und wer früher geht, nimmt enorme Abschläge in Kauf. Damit kann jeder sein eigenes Leben gestalten.
Gehört zur nötigen Staatsreform nicht auch eine Reform des Kammerstaates dazu?
In der Aus- und Weiterbildung ist die Wirtschaftskammer mit ihren Wifis unverzichtbar. Außerdem haben wir das beste Außenwirtschaftsnetz der Welt, sagt die Welthandelsorganisation WTO. Es sichert uns lebenswichtige Exporte und Wohlstand.
Die Politik ist in ganz Europa sehr polarisiert. Was kann man für ein friedfertigeres Miteinander tun?
Antworten, auf die Lebenssituation der Menschen finden: Wohnen und Teuerung. Bei Migration erwarte ich, dass auf europäischer Ebene endlich etwas geschieht. Wir brauchen nicht unkontrollierte, aber legale Zuwanderung. Würden alle Migranten in Österreich auch nur einen Tag die Arbeit niederlegen, würden wir schlecht ausschauen!

Was halten Sie als ÖVP-Mitglied vom sehr linken Finanzminister?
Der kluge Bruno Kreisky sagte: „Links kann man denken, regiert wird rechts“. Die Regierung hat es geschafft, nicht zu streiten. Aber natürlich ist das auf Dauer zu wenig.
Russland führt nun schon seit drei Jahren Krieg gegen die Ukraine. Sie hatten ja sehr gute Verbindungen zu Russland. Man warf Ihnen später vor, Putin hofiert zu haben. Haben Sie ihn falsch eingeschätzt?
Nachträglich sieht man manches anders. Aber alles hat eine gewisse Entwicklung, womit sich die Historiker auseinandersetzen sollten. Natürlich könnte man jetzt sagen: Die bleiben auf ewig unsere Feinde, und liebe Ukraine, opfert euch weiter. Aber jeden Tag sterben 1.000 Menschen in diesem schrecklichen Krieg! Was könnte man tun? Unsere militärische Neutralität oder die Südtirol-Autonomie wären Vorbilder dafür.
Hat die EU überhaupt die Kraft für einen Friedensprozess?
Donald Trump zieht uns Europäer in einen Kampf hinein, den wir nicht gewinnen können. Trump sagt: „Ich bin bei Sanktionen gegen Russland dabei, wenn ihr auch gegen China Sanktionen verhängt“ und treibt Russland und China damit noch näher zueinander. Jetzt ist ein ganz kritischer Punkt erreicht. Man muss Frieden durch Dialog herstellen. Ich sehe nicht ein, warum sich nicht alle neutralen Länder wie Österreich zusammentun und Ukraine und Russland dazu einladen. Wir hatten doch auch Kennedy und Chruschtschow in Wien.
Das wird mit unserer Außenministerin schwierig, die sehr oft in der Ukraine ist und sich sogar in ukrainischer Tracht fotografieren ließ.
Es steht mir nicht zu, sie zu belehren, sie muss selbst wissen, wie es zu einer Lösung kommt. Glaubt jemand ernsthaft, man wird Russland besiegen? Schauen Sie sich seine Ressourcen an, und nun haben die Russen auch noch neue Partner. Putin hat mir noch 2008 gesagt: „Ich bin aus St. Petersburg, ich bin Europäer, aber wenn mir Europa die Tür vor der Nase zuschlägt, dann muss ich mich den Chinesen zuwenden.“ Jetzt ist das der Fall, und die Inder – stinksauer über die US-Zölle – schließen sich dem an. Amerika gilt als Feind – mit Europa im Schlepptau ohne eigene Entschluss- und Handlungsfähigkeit.
Zum ausführlichen Gespräch mit Christoph Leitl
Würde man Sie bitten, bei Friedensgesprächen mit Putin behilflich zu sein, würden Sie das tun?
Ich sehe niemanden, der dazu einlädt. Das ginge auch nicht ohne Zustimmung der EU.
War die Reise von Karl Nehammer zu Putin denn sinnvoll?
Es war schlecht vorbereitet und hatte keinen konkreten Auftrag.
Sind Sie schockiert über die Entwicklung von Putin?
Ja natürlich. Da gab es eine Wesensveränderung. Was mir unendlich leidtut: Wir hatten so tolle Kontakte in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur mit Russland. In Russland haben unsere Väter, auch mein eigener, gekämpft. Ich hoffe, dass es nach diesem Krieg wieder ein Miteinander geben wird. Was hätte eine russisch-europäische Freihandelszone für ein Potenzial!

Zur Person:
Christoph Leitl führte erfolgreich das Familienunternehmen im Baustoffbereich und war in der OÖ-Landespolitik aktiv, bevor er 2000 bis 2018 Wirtschaftskammerpräsident mit starker internationaler Ausrichtung wurde. Danach war Leitl Chef von Eurochambres. Er sieht sich als Friedensaktivist und übernahm die „Europaburg“ im steirischen Neumarkt, wo mittels einer Stiftung europäische Jugendtreffen stattfinden.
Was bedeutet eigentlich Geld für Sie? Sie besitzen unter anderem eine Insel im Attersee samt dem Schlösschen Litzlberg. Können Sie Ihren Wohlstand überhaupt genießen?
Ich bin in diesem Familienbesitz praktisch nie. Mein Lebensstil ist ein sehr einfacher. Ich habe ein 500 Jahre altes Auszugshäusl im Mühlviertel. Davor einen Blumen- und einen Erdäpfelgarten. Und dann wird eine Knackwurst auf einen Haselnussstecken gesteckt, in der Feuerschale gebraten, ein Flascherl Wein daneben, der Sternenhimmel über mir: Es gibt nichts Schöneres. Mein Nachbar bewundert oft meine großen Erdäpfel.
Sie haben Ihr Unternehmen schon an Ihre Kinder weitergegeben?
Ja, aber selbst bin ich auch noch Unternehmer und begleite vier Start-ups. Ich fordere mich selbst, weil ein Radl, das zu langsam fährt, fällt um.
1979 wären Sie von maskierten RAF-Anhängern vor Ihrem Haus fast entführt und vielleicht ermordet worden. Ist ein Trauma geblieben?
Bei mir bleibt Dankbarkeit, weil ich schon als Dreißigjähriger erfahren habe, wie plötzlich das Leben enden kann.
Hatten Sie Todesangst?
Nein, das geht so schnell, man reagiert instinktiv. Ich sah die Neun-Millimeter-Pistole und roch den Äther, daraufhin habe ich mich mit einer Rolle rückwärts über den Zaun geworfen und bin verletzt liegen geblieben. Danach dachte ich: „Glück gehabt. Und: Ein Fisch, der einmal an einen Haken gebissen hat, wird nicht mehr am selben Haken anbeißen.“ Aber dann sollte meine fünfjährige Tochter entführt werden. Doch einer wollte nicht mittun. Den habe ich, als die Gruppe gefasst und verurteilt worden war, im Gefängnis besucht und versprochen, ihm nach der Freilassung bei der Jobsuche zu helfen. Er hat Elektriker gelernt und in einem Unternehmen gearbeitet, mit dessen Eigentümer ich befreundet war. Später hat er sich als Taxifahrer selbstständig gemacht und schreibt mir alljährlich eine Weihnachtskarte.
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