"Plötzlich waren da wieder die großen Verschwörungsmythen"

Lia Guttmann (Blond), Milli Li Rabinovici, Juedische Hochschuelerschaft, 1020 Wien
Der Alltag für jüdische Jugendliche hat sich durch Corona und den 7. Oktober dramatisch geändert. Wie, das erzählen Lia Guttmann und Milli Li Rabinovici dem KURIER.

Man muss genau hinsehen, um den Stern zu entdecken. Er ist klein, Lia Guttmann trägt ihn um den Hals. Der Anhänger in Form eines Davidsterns ist Glücksbringer und stilles Bekenntnis; nur Aufmerksame nehmen ihn so wahr. "Viele halten ihn einfach für ein Mode-Accessoire", sagt Lia, die mit ihren blonden Locken so gar nicht dem Stereotyp einer jüdischen Studentin entspricht. In diesen Tagen ist ihr das nicht ganz unrecht. Denn zuletzt ist es für jüdische Mitmenschen schwieriger geworden in Österreich. Viel schwieriger.

Lia Guttmann (Blond), Milli Li Rabinovici, Juedische Hochschuelerschaft, 1020 Wien

Wir sitzen in einem Cafe in Wien-Leopoldstadt. Lia Guttmann und Milli Li Rabinovici sind gewählte Co-Präsidentinnen der Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen, kurz JöH. Und sie erzählen, wie sich der Alltag für jüdische Jugendliche geändert hat. „Die letzten zwei Jahre waren ziemlich fordernd“, sagt Milli Li. Einzelne Anfeindungen und Antisemitismus habe es immer gegeben. Dass Synagogen und Schulen von bewaffneten Wächtern gesichert, dass Taschen geröntgt und Besucher auf Metall-Gegenstände überprüft werden müssen, all das ist normal. „Uns ist das schon als Kinder nie aufgefallen, das war der Alltag." Mit Corona wurde die Sache noch einmal anders. "Plötzlich waren da wieder die großen Verschwörungsmythen“, sagt Milli Li. Dass die Juden Corona bewusst "produziert" hätten; dass sie mit dem Impfstoff Geld verdienen wollten. "Bei den Corona-Demos bekamen wir dann Warnungen von der Kultusgemeinde aufs Handy. Wir sollten bestimmte Gegenden meiden oder besser nicht nach draußen gehen."

Lia Guttmann (Blond), Milli Li Rabinovici, Juedische Hochschuelerschaft, 1020 Wien

Dann kam der 7. Oktober 2023. Und er brachte nicht ein Mehr an Empathie, sondern eine weiter verschärft-aggressive Stimmung gegen "all die Juden". 

"Schon am Tag des Überfalls der Hamas gab es in der Mariahilfer Straße die erste Demonstration, bei der Menschen das Massaker gefeiert haben“, sagt Lia. Auto-Konvois fuhren durch den zweiten Bezirk, in dem besonders viele Juden wohnen. Man feierte das Morden an den Zivilisten als "Revolution".

Auch Milli Li trägt einen Anhänger. Es ist die Hand der Fatima bzw. Hand der Mirjam. Wie manch anderes haben Islam und Judentum auch dieses Symbol gemein. Was hier "Hand der Fatima" heißt, nennt sich dort die "Hand der Mirjam". Der Sinn ist derselbe: Sie soll beschützen, das Böse abhalten. Milli Li will weder ihren Anhänger noch sich selbst verstecken. „In Österreich soll sich niemand verstecken müssen. Wenn das passiert, hat der Antisemitismus gewonnen."

Lia Guttmann (Blond), Milli Li Rabinovici, Juedische Hochschuelerschaft, 1020 Wien

Sind wir wirklich so weit, dass jüdische Mitmenschen auf der Straße Angst haben müssen? 

Die Studentinnen sprechen nicht von Angst. Wie gesagt, sie sind als Jüdinnen nicht sofort erkennbar. Manche ihrer männlichen Freunde tragen die Kippa (traditionelle Kopfbedeckung, Anm.) lieber unter einer Baseball-Kappe - sicher ist sicher.

Doch ob erkennbar oder nicht: Von Jüdinnen und Juden wird verlangt, sich zu deklarieren und eine Meinung zu haben. "Und leider werden wir unhinterfragt als Botschafter oder Vertreter der israelischen Regierung wahrgenommen."

Bei Lia und Milli Li ist das besonders absurd. Denn schon lange vor dem Schlachten der Hamas und dem Einmarsch Israels in den Gaza-Streifen haben die beiden gegen die Regierung Netanjahu demonstriert, die JöH organisierte in Wien eine Kundgebung.

Mit wem diskutieren sie noch über den Gazastreifen oder die Situation im Nahen Osten? Können und wollen sie das überhaupt? 

 "Es ist schwierig, weil man als Jüdin sofort unter dem Generalverdacht steht, alles, was Israel tut, gut zu finden." 

Viele Freunde von Milli Li und Lia haben nicht-jüdische Freundschaften verloren. "Denn nicht alle können verstehen, dass man beides fürchterlich finden kann. Die Lage im Gaza-Streifen, aber auch das Leid der Familien, deren Angehörige die Hamas ermordet oder vor Jahren verschleppt hat."

Was ist mit Österreichs Muslimen? Gibt es mit ihnen noch einen Dialog?

"Wir weigern uns, alle Menschen in einen Topf zu werfen. Wir können nicht alle Musliminnen und Muslime dafür verantwortlich machen, was die Hamas oder Palästinenser verbrechen. Jeder trägt die Verantwortung für sein Handeln." Auch nach dem Massaker hat die JöH Jugendliche der muslimischen Jugend getroffen. "Wir haben gemeinsam gekocht, Shabbat gegessen, uns gegenseitig unsere Kultur erklärt und eine Mahnwache abgehalten. Dieses friedliche Zusammenleben gibt es ja auch in Israel." 

Seit dem 7. Oktober sei das Ganze um vieles schwieriger geworden. "Kritiker auf beiden Seiten sagen: Wie könnt ihr das ernsthaft machen? Mit denen?"

Lia und Milli Li haben darauf eine schlichte Antwort: "Wir müssen einfach im Dialog bleiben, es ist der einzige Weg zur Heilung."

Der Friedensplan für den Nahen Osten ist die erste gute Nachricht seit langem. "Wir sind jetzt an einem Punkt, an dem zumindest wieder Hoffnung auf ein Zusammenleben besteht." So oder so werde es Jahre dauern, bis sich die Lage normalisiert.  "Aber wir wünschen uns Frieden. Aus tiefem Herzen. Und das für alle."

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