Muss es immer Haft sein? Experten regen Alternativen an

Unternehmer treffen oft „extrem schwierige Entscheidungen“ – für Norbert Wess, prominenter Verteidiger in Wirtschaftsstrafsachen, sind sie deshalb nicht immer Schwerstkriminelle. Schon gar nicht, wenn sie sich persönlich nicht bereichert, sondern eben „nur“ die falsche Entscheidung getroffen haben, wie er im aktuellen „Milchbar Spezial“-Podcast des KURIER sagte.
Alternativen zur Haftstrafe
Wess regte an, sich zu überlegen, ob Haft wirklich immer die ideale Sanktion sei. Was ihm vorschwebt?
Die Diversion soll ausgeweitet (siehe Infobox) bzw. andere Sanktionsformen gefunden werden. Der Nebeneffekt: Komplexe Wirtschaftscausen könnten deutlich schneller erledigt werden.
Tatsächlich gibt es auf Regierungsebene Überlegungen: Im Arbeitsprogramm von ÖVP, SPÖ und Neos ist von einer „Überarbeitung der Diversion, auch mit Blick auf die Schadensgutmachung“ die Rede. Aus dem Justizministerium heißt es am Donnerstag, es werde „laufend evaluiert“, ob Anpassungen sinnvoll seien. Konkrete Pläne zur Diversion gebe es noch nicht.
Für eine Ausweitung – auch bei schweren Wirtschaftsdelikten – spricht sich auch Robert Kert, Professor an der Wiener WU, aus. Eine niedrige Geldbuße würde dann aber nicht reichen: „Man könnte auch die Pflicht zu einer gemeinnützigen Leistung ausdehnen.“
Eine Diversion ist möglich, wenn der Sachverhalt hinreichend geklärt ist, der Beschuldigte Verantwortung übernimmt – und es keine schwere Tat (mehr als fünf Jahre Strafmaß bzw. mehr als 300.000 Euro Schaden) war. Statt Schuldspruch gibt es dann z. B. eine Geldbuße.
34.588Erwachsene bekamen 2024 eine Diversion. 2015 waren es rund 32.000.
Absprachen
Neben der Diversion gäbe es alternative Modelle, die in Fachkreisen diskutiert werden. Bei einer Podiumsdiskussion der „Austrian White Collar Association“, der Vereinigung für Wirtschaftsstrafrecht, Ende Mai ging es um „verfahrensbeendende Absprache“ nach Vorbild Deutschlands – mit Kert als Experten am Podium.
Seit 2009 ist im deutschen Recht verankert, dass Staatsanwaltschaft und Verteidigung eine Vereinbarung treffen können, wenn ein Beschuldigter einen Teil seiner Schuld zugibt. Die Vereinbarung über eine entsprechende Strafe bzw. Geldbuße wird einem Richter vorgelegt. Wenn dieser vom „festgestellten Sachverhalt und der Glaubhaftigkeit des Geständnisses“ überzeugt und mit der Vereinbarung einverstanden ist, endet die Hauptverhandlung mit einem Schuldspruch. Aber eben deutlich schneller und ressourcenschonender als nach einem klassischen Ermittlungsverfahren.
Kert hat im Vorjahr im Linde-Verlag einen Aufsatz zum Thema „Verfahrensbeschleunigung durch Absprachen“ veröffentlicht. Darin zeigt er auf, wo die Probleme bei einer Implementierung des deutschen Systems liegen würden. Im österreichischen Strafrecht herrscht der Grundsatz der „materiellen Wahrheit“: Eine Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, (so weit möglich) vollständig zu ermitteln, was geschehen ist. Und bei einer verfahrensbeendenden Absprache würde die Behörde ja in Kauf nehmen, nur einen Teil der Wahrheit zu erfahren.
In Deutschland sieht man es offenbar pragmatisch: Eingeführt wurde dieses Instrument, weil man „heimliche Deals“ abdrehen bzw. auf eine offizielle Ebene heben und transparent machen wollte, schildert Kert.
Und: „Es gibt viele Justizangehörige, die sagen, sie würden die großen, komplexen Wirtschaftscausen anders nicht mehr schaffen. Den Eindruck habe ich vermehrt auch in Österreich. Es ist einfach nicht realistisch, wirklich alles auszuermitteln; und auch nicht immer sinnvoll, wenn sich an der Strafhöhe am Ende nicht viel ändert.“
„Freikaufen“
In Kauf nehmen müsste die Justiz auch, dass die Strafe nach einer Absprache niedriger ausfällt. Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass Verurteilte dann teils gar nicht mehr ins Gefängnis müssen, sagt Kert.
Mitbedacht werden müsste in der Debatte freilich auch das kollektive Gerechtigkeitsempfinden: Dass ein Wirtschaftsboss betrügt, Arbeitsplätze und Existenzen vernichtet – und sich dann „freikaufen“ kann, wäre für breite Teile der Bevölkerung wohl nicht nachvollziehbar. Vor allem dann nicht, wenn auf der anderen Seite ein Ladendieb, der wiederholt zugreift, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hinter Gitter muss.
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