Fall Anna: Empören wir uns über das Richtige

Prozess im Fall Anna
Die kolportierte "Massenvergewaltigung" einer 12-Jährigen offenbart viele Probleme. Einen Justiz-Skandal gibt sie bei aller Entrüstung aber nicht her.
Christian Böhmer

Christian Böhmer

Sie tun einer 12-Jährigen Gewalt an. In Stiegenhäusern und Garagen, einmal in einem Hotelzimmer. Und dann werden zehn junge Männer mit Migrationshintergrund so einfach freigesprochen? Geht’s noch? Man muss keine Töchter im Teenageralter haben, um sich über die „Massenvergewaltigung“ zu empören, von der seit Tagen die Rede ist. Am Freitag ging im Wiener Straflandesgericht ein Prozess mit Freisprüchen zu Ende. Und seither entrüsten sich Öffentlichkeit und Spitzenpolitikerinnen über das „Fehlurteil“. 

Tatsächlich ist der Gedanke unerträglich, dass eine „Massenvergewaltigung“ ganz einfach so durchgeht, dass sie akzeptiert wird, dass sie bald schon als normal ... STOPP! Haben wir länger als nur einen Atemzug  darüber nachgedacht, ob auch wirklich genau das  passiert ist, woran man denkt, und was  einen zu Recht wütend macht?

Wie sieht es mit den Polizisten und der den Fall bearbeitenden Staatsanwältin aus – haben sie Beweise oder Indizien für eine Massenvergewaltigung gefunden? Offenbar nicht. Im Prozess war nie eine Vergewaltigung angeklagt, ja noch nicht einmal von schwerem sexuellen Missbrauch einer Unmündigen war die Rede.
Was haben die vier Richter und die psychiatrische Sachverständige im Laufe des Prozesses herausgefunden? Haben sie Hinweise auf eine posttraumatische Störung, auf Gewalt an Seele und Körper des Mädchens ausgemacht?  Auch das muss mit „Nein“ beantwortet werden  – und zwar nicht mit einem vorsichtig-zweifelnden, sondern mit einem sehr „eindeutigen“, wie der Richter festhielt.

Was sich im Detail zwischen dem Mädchen und den männlichen Teenagern im Laufe der Zeit abgespielt hat, das kann und soll an dieser Stelle aus Respekt vor dem Mädchen nicht breitgetreten werden. Es sind Dinge passiert, die im Werte- und Moralverständnis von vielen schwer Platz finden. Und man muss etliche der zum Teil mit Vorstrafen belasteten Jugendlichen als sozial verwahrlost und vielleicht gestört bezeichnen. Für den konkreten Fall aber ist wesentlich, dass die in den Köpfen des Publikums verfestigte „Massenvergewaltigung“ so nie stattgefunden hat; nicht, wenn man den an der Aufklärung Beteiligten, also Polizisten, Staatsanwältinnen, Richtern und Sachverständigen ein Mindestmaß an Professionalität und Empathie zubilligt.  

Eine vor allem vom Boulevard und Sozialen Medien getriebene Gesellschaft tut gut daran, sich dreimal zu überlegen, worüber sie sich unendlich empört. Im Fall Anna sind es Phänomene wie eine wahrlich beängstigende Verwahrlosung und Verrohung. Ein Justiz-Skandal ist das Ganze bisher aber nicht.

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