Warum die Familie wieder zum "Rückzugsort" wird

Die Österreicher haben Sehnsucht nach Sicherheit - für Experten ein Grund für den Trend zur Familie.
Mehr Ehen, weniger Scheidungen: Sicherheit und Tradition stehen messbar hoch im Kurs.

Wie beginnt man eine Geschichte über eine Familie, die man nur flüchtig kennt?

Bei der Familie Kahl, und um sie soll es hier gehen, ist die Sache einfach: Man beginnt mit einer SMS. Und zwar mit der, die einem Andrea Kahl schickt, nachdem man sie zweimal versetzt hat, weil man Stau und Parkplatzsuche heillos unterschätzt hat. Kahl und die Familie sind pünktlich am Treffpunkt. „Kein Stress“, schreibt sie. Und dann noch einen Satz, der irgendwie alles zusammenfasst, was die Familie angeht: „wir haben es gut“.

In dem Moment meint sie natürlich den Tee und die heiße Schokolade, die dampfend zwischen ihr, Ehemann Gerhard und den Söhnen Benedikt, 11, und Christoph, 8, steht.

Aber irgendwie meint die Religions- und Ethik-Lehrerin auch das große Ganze: Den Kahls geht es gut. Und das spürt man, wenn man mit ihnen am Tisch sitzt.

„Familie ist für uns ein, nein, es ist der Rückzugsort“, sagt Gerhard Kahl.

Ben und Christoph sitzen daneben. Erst zeichnen sie, später werden sie mit den Handys spielen. Aber die Ohren sind stets bei dem Gespräch dabei, ihr Geist ist wach. Und wenn man sie persönlich anspricht, erzählen die Buben ganz ungezwungen drauflos. Von der Mathe-Schularbeit am nächsten Tag, vom Judo-Training oder dem Schlagzeug, auf dem Christoph mitunter gern herumhämmert.

Warum die Familie wieder zum "Rückzugsort" wird

Den Kahls geht es gut. Auch oder vor allem, weil sie als Familie ihre "Basis für alles" haben.

Die Basis für alles

Die Kahls aus Klosterneuburg sind das, was man landläufig eine durchschnittliche Familie nennen würde.

„Familie ist bei uns einfach die Basis für alles Weitere“, sagen die Eltern übereinstimmend. „Das klingt für manche vielleicht ein wenig fantasielos. Aber so ist es nun mal.“

Fantasielos? Nein, für die Mehrheit der 2,4 Millionen Familien in Österreich ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Sie empfinden ganz ähnlich, die Familie ist allerorten ein Sehnsuchtsort. Das war in Österreich immer schon so. Jetzt, 2018, ist es aber wieder besonders sicht- und messbar.

Laut einer unlängst publizierten Untersuchung des Instituts für Familienforschung an der Universität Wien steigt seit wenigen Jahren die Zahl der geschlossenen Ehen; gleichzeitig sinkt die der Scheidungen.

„Die Gesamtscheidungsrate ist von 2007 bis 2017 um 8,5 Prozentpunkte gesunken“, sagt Studienautor Markus Kaindl .

Das klingt aufs Erste fast paradox: Warum heiraten immer mehr Menschen – wo doch die gesellschaftlichen und rechtlichen Nachteile für unverheiratete Paare immer weniger werden?

Und warum lassen sich zunehmend weniger Menschen scheiden – obwohl es doch heute viel einfacher ist, eine Ehe zu beenden als noch vor Jahrzehnten?

„Relevant dafür ist unter anderem, dass die Österreicher eine starke Sehnsucht nach Sicherheit verspüren, und dass sie Tradition und Familie als sehr wichtig bewerten“, sagt Johann Bacher von der Johannes Kepler Universität Linz. Bacher ist Soziologe, und er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Werte-Welt der Bevölkerung.

Für ihn ist klar: Eine Ehe vermittelt, wonach sich die Österreicher deutlich mehr sehnen als nach „Macht“, „Leistung“ oder „Abenteuerlust“, nämlich: nach Sicherheit und Tradition.

Fallen lassen

Sicherheit – das ist ein Wort, das auch bei Andrea Kahl etwas auslöst: „Ich will mich in einem sicheren Raum bedingungslos fallen lassen können. Und genau das ermöglichen mir Ehe und Familie.“

Die Kahls versuchen, diesen Platz besonders zu pflegen. „Der Sonntag ist für uns der Familientag.“ Mal geht’s zum Schwimmen, mal wird zu Hause gespielt. „Und ab und zu machen wir Filmabende.“ Transsilvanien 1 bis 3 spielte es zuletzt.

Dieser Rückzug ins Private sollte freilich nicht mit einem neuen Biedermeier verwechselt werden.

Österreichs Familien arbeiten mehr denn je, um ihren Lebensstandard zu halten oder anzuheben. „Und da die Erwerbstätigkeit mehr geworden ist, kann objektiv sicher nicht von einem Rückzug ins Private gesprochen werden“, erklärt Werte-Forscher Bacher.

Der Job ist eines der Themen, bei denen sich die Kahls bisweilen in die Quere kommen. „Ich meine, dass wir alle zu viel arbeiten. Auch mein Mann arbeitet zu viel“, sagt Andrea Kahl. Und dann erzählt sie von dem Ritual, das sie abends schätzt: „Gerhard kommt nach Hause, wäscht sich die Hände – und ab dem Moment ist er ganz da.“

Schlafen die Kinder, arbeitet Herr Kahl oft weiter. Für ihn ist das in Ordnung – im Unterschied zu den Jüngeren.

„Die Work-Life-Balance ist enorm wichtig geworden“, sagt Soziologe Bacher.

Herrn Kahl fällt dazu bei seinen Dissertanten an der Universität auf, „dass Werte wie Verbindlichkeit oder Verlässlichkeit hoch im Kurs stehen. Sie sind zeitlos“.

Ein schöner Schlusssatz. Wie gesagt: Die Kahls machen es einem sehr einfach.

Hinweis: In unserer Serie "Familien leben" gehen wir der neuen Lust an der Familie auf den Grund. Bisher erschienen sind folgende Teile: 

Famlie in Zahlen

Vor wenigen Wochen hat das Österreichische Institut für Familienforschung (ÖIF) an der Universität Wien eine umfassende Studie zur Situation der heimischen Familien vorgelegt.

Die wesentlichsten Ergebnisse:

Mehr Eheschließungen Die Zahl der Ehen steigt mit leichten Schwankungen seit 2007 an. Von 39.996 (2007) auf 44.981 im Jahr 2017.

Höheres Heiratsalter Das mittlere Alter bei der ersten Hochzeit ist von 2007 bis 2017 gestiegen, bei Frauen von 28,8 auf 30,4 Jahre, bei Männern von 31,6 auf 32,7 Jahre.

Weniger Scheidungen  Die Gesamtscheidungsrate ist von 2007 bis 2017 um 8,5 Prozentpunkte gesunken.

Weniger PatchworkfamilienDie Zahl der Stief- und Patchworkfamilien mit Kindern unter 15 Jahren sinkt. Von 62.100 (2007) auf 51.057 im Vorjahr.

Mehr Alleinlebende Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte nimmt deutlich zu. Von 1,241 Millionen im Jahr 2007 auf nun 1,438 Millionen.

Höheres Gebäralter Das durchschnittliche Alter bei der ersten Geburt ist von 1955 (24,5 Jahre) bis Anfang der 1970er gesunken (22,9), danach aber deutlich angestiegen. Allein seit 2000 um mehr als zwei Jahre (27,1 auf jetzt 29,5 Jahre).

Mehr Kinder Die Fertilitätsrate ist  seit den 1960er Jahren (2,7 Kinder pro Frau) stark gesunken. Vom Tiefststand 2000 (1,36) ist sie nun aber wieder steigend (1,52).

Längeres Leben  Die Lebenserwartung bei der Geburt stieg seit 1950 enorm. Bei Frauen von 67,2 auf 83,9 Jahre, bei Männern von 62,2 auf 79,3 Jahre.

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